Schaudern unterm Lindenbaum
Nach 1900 zieht auch im Davoser Lungensanatorium „Berghof“ die moderne Technik ein – unter anderem in Gestalt eines Grammophons, auf dem Hans Castorp, der Held des Romans, seine Lieblingsplatten hört. Zu ihnen gehört, wie der Erzähler in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ mitteilt, ein Stück, „welches nun freilich gar nichts Französisches mehr war, sondern etwa sogar besonders und exemplarisch Deutsches, auch nichts Opernhaftes, sondern ein Lied, eines jener Lieder, Volksgut und Meisterwerk zugleich und eben durch dieses Zugleich seinen besonderen geistig-weltbildlichen Stempel empfangend... Wozu die Umschweife? Es war Schuberts »Lindenbaum«, es war nichts anderes als dies allvertraute »Am Brunnen vor dem Tore«.“
Ja, wozu die Umschweife? Schuberts „Lindenbaum“, das fünfte Lied aus dem späten Zyklus „Die Winterreise“, wurde, wie Thomas Mann es in der so wortmächtigen wie tiefgründigen Analyse seines Romans beschreibt, in der Tat in der Rezeption zur klingenden Ikone der deutschen Romantik – genauer: es wurde zum romantischen Volkslied. Diese Popularität war freilich weniger Schuberts „Verdienst“ als das seines Bearbeiters Friedrich Silcher, dessen glättende Chorversion das Werk – unter harmonisierender Anpassung zumal der für den Bau des Ganzen essenziellen dritten Strophe („Die kalten Winde bliesen“) dem Männergesangverein überantwortete.
Popularität – die sich freilich nicht mehr rückgängig machen lässt – war also das Resultat einer Verfälschung, Romantik hat, wie sich hier ganz deutlich zeigt, mit Biedermeier nichts zu tun. Indes „verfolgte“ die spezielle Vorliebe des Publikums den „Lindenbaum“ bereits vor Silcher, eigentlich seit der Entstehung.

Franz Schuberts Denkmal im Wiener Stadtpark
Copyright: Karl Allen Lugmayer - stock.adob
Als einen „Zyklus schauerlicher Lieder“ hatte Schubert seinen Freunden im Frühjahr 1827 die ersten zwölf Gesänge der „Winterreise“ angekündigt. Als er sie ihnen „mit bewegter Stimme“ vortrug, waren alle „über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft“, und Franz Schober, der lebenslustige Freund, konnte nur einem Lied, eben dem „Lindenbaum“, etwas abgewinnen. Schubert aber bekannte: „Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden auch euch noch gefallen.“
„Schauerliche Lieder“ und dazwischen, als einziger Lichtblick, der „Lindenbaum“ – eine solche Einordnung verfehlt auch dieses Lied in der Tat grundsätzlich. Thomas Mann wusste im „Zauberberg“ darum, als er seinen Erzähler sagen lässt: „Und dennoch stand hinter diesem holden Produkte der Tod. Er unterhielt Beziehungen zu ihm, die man lieben mochte, aber nicht ohne sich von einer bestimmten Unerlaubtheit solcher Liebe ahnungsvoll-regierungsweise Rechenschaft zu geben.“ Drastischer noch formuliert es der Dirigent und Musikologe Peter Gülke in seiner Schubert-Monografie: „»Hier fänd’st du deine Ruh« – die sängerische Erfüllung des Liedes fordert zum Selbstmord auf.“
Zudem zerstört Silcher, indem er den „Lindenbaum“ isoliert, dessen engen Bezug zum zyklischen Kontext: Das wie von einer Zither angestimmte Klaviervorspiel des Liedes, das dann in Zwischen- und Nachspielen immer wieder erscheint, greift in der Diskantstimme die Basslinie der vorangegangenen „Erstarrung“ auf.
Die Musik zur ersten Strophe ist unverkennbar ein tönendes Sehnsuchtsbild. Die bereits in eine Traumsphäre entrückte Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit, die den Winderwanderer als lyrischen Sprecher heimsucht, ruft auch musikalisch die stilisierende Rückkehr ins 18. Jahrhundert hervor. Die trostlose Gegenwart bricht, angezeigt durch den fundamentalen Tonartenwechsel von E-Dur nach e-Moll in der zweiten und dritten Strophe durch – es sind die dritte und die fünfte Strophe von Wilhelm Müllers Gedicht, dessen sechs Strophen Schubert in der Vertonung auf vier bringt. Bei „Die kalten Winde bliesen“ ist die akkordisch-terzengesättigte Begleitung motivisch durch das Zithervorspiel ersetzt, das dadurch noch im Nachhinein alle harmlose Nettigkeit einbüßt und zum Klangsymbol rastloser Unbehaustheit wird. Eine Anspielung auf die Lebensform der Zigeuner, die zur Zeit des Komponisten im österreichisch-ungarischen Raum schließlich virtuose Zymbalspieler stellten?
Das Gedicht bringt von sich aus die für die Romantik zentrale Oppositionen auf griffige Gegensatzpaare: Vergangenheit versus Gegenwart, Heimat versus Wanderschaft, Frühling versus Winter, Liebe versus Verlassenheit, Glück versus Unglück (das, siehe die Zeilen „Der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht“, mit verzweifeltem Stoizismus hingenommen werden mag). Und Schubert bringt sie mit schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit in eine suggestive musikalische Form.
Am Ende wiederholt er die letzte Strophe („Nun bin ich manche Stunde“) – in sich selbst versinkende Beschwörung eines locus amoenus, eines imaginären Paradieses, das es so nie gab. Die „Ruh’“ unter dem Lindenbaum – sie ist in der Tat keine von dieser Welt. „Diese“ Welt hingegen ist bei Müller und Schubert eine garstige Sphäre, eine erstarrte Winterlandschaft, ein Ort metaphysischer Obdachlosigkeit. „Der Lindenbaum“ ist nicht nur ein großartiges, ein erschütterndes, sondern auch trotz seiner Popularität ein „schauerliches Lied“.
In unserer Serie „Ikonen der Klassik“ stellten wir zuletzt als 17. Folge das E-Dur-Streichquintett von Luigi Boccherini vor.
CHRONIK
Entstehung und erste Aufführung: Schubert komponierte seinen 24-teiligen Liederzyklus „Die Winterreise“ zwischen Februar und Oktober 1827 in Wien. Die erste Aufführung des „Lindenbaum“ ist ungesichert, sie wird im nämlichen Jahr im intimen Kreis seiner Freunde – der „Schubertianer“ – stattgefunden haben, mit Schuberts bevorzugtem Interpreten, dem Sänger Johann Michael Vogl, und ihm selbst am Klavier.
Beste Stelle: Für mich die Wiederholung der ersten Strophe zu dem Text „Nun bin ich manche Stunde“ als vierter am Schluss. Man hört diese Musik anders als beim ersten Mal, nämlich, angesichts der „desaströsen“ Mittelstrophen als eine endgültig irreale Entrückung. (MaS)
DIE BESTE EINSPIELUNG
Ich bevorzuge, etwas fantasielos, die Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore von 1972. Imposant ist die tief in den Geist der Romantik eindringende Gestaltung des Baritons imposant. (MaS)