Die Deutsche wird derzeit sogar in den USA gefeiert. Ein Gespräch übers Drehen, Preise in Cannes, moderne Frauenfiguren und die Lehren aus #Metoo.
Schauspielerin Sandra Hüller im Interview„Es gibt Männer in dem Beruf, die werden nie lernen, wie man mit Frauen umgeht“
Auf die Minute pünktlich ruft Sandra Hüller an – und beweist mit jeder Antwort, dass gute Schauspielerinnen mehr tun, als zu spielen. Ein Gespräch über Preise in Cannes, moderne Frauenfiguren – und die Verantwortung, die Frau eines KZ-Kommandanten zu verkörpern.
Frau Hüller, beim Festival in Cannes haben Sie in diesem Jahr in den beiden Filmen mitgespielt, die am Ende die Hauptpreise gewannen. Sie selbst sind leer ausgegangen. Ist das Leben einer Schauspielerin ungerecht?
Ne, ich habe ja gewonnen. Die Goldene Palme für „Anatomie eines Falls“ war für uns alle vom Filmteam, genauso wie der Große Jury-Preis für „The Zone of Interest“. Es hätte nichts Schöneres passieren können.
Gut, aber sogar der Border Collie in „Anatomie eines Falls“ hat die – inoffizielle – Hunde-Palme gewonnen.
Ja, das war toll. Der Hund hat ja noch schlimmere Sachen machen müssen als ich. Er wurde für seine Rolle sogar betäubt und war bewusstlos.
Eine gewisse Eitelkeit gehört zur Grundvoraussetzung der Schauspielerei: Fällt es Ihnen leicht, sich in den Dienst eines Films zu stellen?
Es gibt unterschiedliche Vorstellungen von diesem Beruf. Ich persönlich finde, dass Eitelkeit mich davon abhält zu arbeiten. Für andere ist es wichtig, sich selbst ins beste Licht zu setzen. Beide Arten sind legitim.
Schon vor sieben Jahren wurden Sie in Cannes mit „Toni Erdmann“ gefeiert. Für diesen Sensationsfilm gab es keinen Preis. Trotzdem: Welche Bedeutung hat Cannes für Ihre Karriere?
Cannes war für mich lange ein mystischer Ort, zu dem nur wenige Zutritt hatten. Durch „Toni Erdmann“ hatte ich plötzlich das Privileg, es mir anzuschauen. Gleichzeitig gibt es viele Diskussionen um dieses Festival, zum Beispiel über die Brutalität, mit der Filme dort zerrissen werden. Deshalb bin ich froh, dass unsere dort so gut aufgenommen wurden.
Sie kennen auch andere Festivals gut, etwa die Berlinale. Dort haben Sie 2006 mit der Exorzismus-Geschichte „Requiem“ den Silbernen Bären gewonnen. Sorgen Sie sich um die Berlinale, die sich gerade müht, das richtige Leitungspersonal zu finden?
Viele Jahre hat Dieter Kosslick die Berlinale geprägt. Nun dauert es eben ein wenig, alles neu zu organisieren. Das kenne ich von Intendantenwechseln an Theatern. Ich bin mir sicher, dass die Berlinale ihren festen Platz behalten wird.
Beide Cannes-Filme haben Sie mit nicht-deutschen Regisseuren gedreht, „Anatomie eines Falls“ mit der Französin Justine Triet, „The Zone of Interest“ mit dem Briten Jonathan Glazer. Reiner Zufall?
Diese Filme sind mir begegnet. Ich schicke meine Agentin nicht los und bitte sie, mir eine internationale Produktion zu suchen. Ich wohne gern hier in Leipzig, ich arbeite gern in Deutschland. Trotzdem bin ich froh, dass diese internationale Tür offen ist. Die Frage ist immer, ob es sich für das Projekt lohnt, von zu Hause wegzugehen.
Aber kommt Ihnen das deutsche Kino zu klein vor, eingeklemmt zwischen Fördertöpfen und Fernsehästhetik?
Ich habe gar keine Lust, über das deutsche Kino zu meckern. Da gibt es immer Leute, die das System ein bisschen dehnen. Es ist mir aber bewusst, was für ein Aufwand dahinter steckt, alle Auflagen zu erfüllen.
Wie oft wird Ihnen ein toller Film wie „Sisi & ich“ angeboten?
Nicht oft. Ich habe aber das Glück, auswählen zu können. Ich kann mit meiner Arbeit meine Miete bezahlen – und darf Sachen machen, die meinen Horizont erweitern.
Sehen Sie sich mehr am Theater oder mehr im Kino verortet?
Ich versuche, die Balance zu halten. Ich brauche das Theater, um als Schauspielerin zu wachsen, und ich fühle mich dort sicherer. Manchmal lässt sich beides schwer verbinden, Filmdreh hier und Vorstellung dort. In Bochum bin ich Gast am Theater, früher gehörte ich zum Ensemble. Aber Bochum ist zu weit weg.
Was lernen Sie am Theater, was sie beim Film nicht lernen können?
Ich schätze es sehr, dass man im Stillen arbeitet, dass weniger Leute beteiligt sind und dass man nicht jeden Tag in die Maske muss. Der Prozess des Suchens ist am Theater essenziell. Beim Film muss jeden Tag was im Kasten sein. Am Theater proben wir sechs oder acht Wochen, und erst bei der Premiere müssen wir etwas vorzeigen.
Zuletzt haben wir zu Corona-Zeiten gesprochen. Damals fragten Sie sich, ob das Publikum zurückkehren wird ins Theater. Ist es zurückgekehrt?
Ich habe keinen wirklichen Überblick. In jeden Fall müssen wir uns am Theater überlegen, für wen wir das machen. Wie kriegen wir Menschen ins Theater, die sich keine Karte für 30, 40 Euro leisten können und die denken, dass ihnen der Zugang fehlt, ein Stück zu verstehen?
Welchen Menschen fehlt der Zugang?
Ich glaube, dass jeder ein Erlebnis im Theater haben kann. Eine Aufführung ist keine Schulveranstaltung, bei der hinterher Wissen abgefragt wird. Man begegnet vielleicht auch einer Welt, die nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat. Das ist ja auch mal schön.
Bleibt nur zu hoffen, dass es in diesem Winter nicht wieder mit einer Corona-Welle losgeht.
In einem vollen Saal trage ich schon wieder eine Maske, eben damit es nicht losgeht. Wenn wir klug sind, fangen wir alle jetzt damit an.
Würden Sie „Anatomie eines Falls“ als einen Liebesfilm bezeichnen?
Ja. Es gibt die abhanden gekommene Liebe zwischen dem Ehepaar. Genauso gibt es die Liebe der Mutter zum Kind. Und es gibt die Liebe zwischen der Mutter und dem Anwalt, der sie vor Gericht verteidigt, als Sandra wegen Mordes an ihrem Mann angeklagt wird.
Was reizt Sie an Ihrer Figur Sandra?
Sie ist eine moderne Frauenfigur, frei von Klischees. Das Thema Erfolg und Misserfolg in Beziehungen und das Machtgefälle zwischen den Partnern habe ich so noch nicht gesehen. Sandra steht ohne Angst für alles ein, was sie tut. Sie ist unglaublich selbstbewusst. Man kann nur davon träumen, so zu sein wie sie.
Nach den Worten Ihrer Regisseurin Triet haben Sie bei Dreharbeiten einen „starken Standpunkt“: Sind Sie eine unbequeme Schauspielerin?
Nein, ich bin eine Partnerin, eine Kollaborateurin. Für Justine war ich vermutlich sogar bequem. Sie mag es, wenn man miteinander Sachen rausfinden will. Solche Schlagworte, wie Sie sie in Ihrer Frage verwendet haben, helfen nicht wirklich weiter. Es gibt keine unbequemen Schauspielerinnen. Aber es gibt Leute, die machen Ärger, weil sie Ärger machen wollen. Das nenne ich nicht unbequem, sondern unverschämt. Die Regisseure und Regisseurinnen, mit denen ich zu tun habe, begreifen Film als Gemeinschaftsarbeit. Sollte dem ausnahmsweise mal nicht so sein und jemand sagt, du machst das so und so, dann ist das unbequem für mich. Dann ist das nicht unser gemeinsamer Film.
Haben Sie Dreharbeiten mal abgebrochen, weil Sie das Gefühl hatten, Sie könnten eben nicht Partnerin sein?
Noch nie. Aber es gab Situationen, wo ich mir sagen musste, dass ich im Notfall gehen könnte. Ich glaube sowieso, dass es im Leben immer möglich sein muss, wegzugehen.
Hat sich das Drehen seit #MeToo verändert? Ist das Einfühlungsvermögen von Regisseuren gewachsen?
Es gibt Männer in dem Beruf, die werden nie lernen, wie man mit Frauen umgeht. Es gibt aber auch Männer, die Feministen sind. Ich glaube nicht, dass sich jemand plötzlich besonders anstrengt, weil bei ihm der Groschen gefallen ist.
Sie hatten in Ihrer Laufbahn sozusagen eine komödiantische Phase, erst mit „Toni Erdmann“ und dann mit „Fack ju Göhte“. Steht demnächst mal wieder ein komischer Part an?
Es liegt nichts auf meinem Tisch – abwarten. Ich weiß aber inzwischen, dass ich keine konventionellen Komödien spielen kann. Ich kann sozusagen keine Witze spielen. Ich kann nur verzweifelte Leute spielen, die Fehler machen.
Ihre Regisseurin Triet hat gesagt, Sie hätten „einen Teil von sich gegeben“. Das sei eine „fantastische Einmaligkeit, die nicht zu wiederholen ist“. War der Film für Sie einmalig?
Jeder Film ist einmalig. Aber natürlich weiß ich nie, ob ich noch mal so spielen kann. Das muss ich jedes Mal ausprobieren. Tatsächlich entstand bei den Dreharbeiten ein ganz seltener Flow. Da denkt man nur noch darüber nach, wie man die nächste Szene am besten spielt.
Ende Februar startet „The Zone of Interest“. Sie spielen die Ehefrau Hedwig des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, die neben dem KZ Rosen züchtet. Haben Sie lange gebraucht, um sich an die Rolle zu wagen?
Lange. Am Anfang wollte ich nicht. Ich hatte einen Pakt mit mir geschlossen, dass ich keine Nazis spiele. Ich habe nie verstanden, wieso wir das brauchen. Warum wir für solche Filme Uniformen nähen müssen. Warum Leute in diesem Ton miteinander sprechen. Warum sie spielen müssen, dass sie andere erniedrigen. Immer wieder gibt es Anfragen gerade aus den USA an Deutsche, ob sie Nazis spielen wollen. Wir können ja auch noch andere Sachen.
Warum haben Sie mitgemacht?
Regisseur Jonathan Glazer hat so viele so geduldige Gespräche mit mir geführt, bis sich gemeinsame Ansätze herauskristallisierten. Zum Beispiel würde ich nicht sagen, dass ich diese Frau gespielt habe. Ich war eher ein Teil dieses Films. Aber ich habe diese Frau nie verteidigt oder mich gar in sie verliebt. Ich war sozusagen eine Ausführende.
Klingt kompliziert: Sie distanzieren sich von Ihrer eigenen Figur?
Sonst hätte ich das nicht machen können. Das ist ja eine wichtige Entscheidung, die man trifft: Wie viel gebe ich so einer Figur von mir selbst? In 99,9 Prozent der Fälle ist das wünschenswert. Bei Hedwig bin ich zum ersten Mal an einen Punkt gekommen, an dem das nicht funktioniert hat. Die Widerstände in mir waren zu groß. Ich konnte nicht den einen Moment finden, in dem ich sage: Jetzt verstehe ich, warum sie so handelt. Oder in dem ich Mitleid mit ihr habe. Sie war eine hammerharte Täterin. Deswegen war dieser Film eher eine körperliche Annäherung. Wie geht jemand, die so viele Kinder geboren und den ganzen Tag im Garten arbeitet – und gleichzeitig diese Schuld auf den Schultern trägt, ohne es zu wissen?
Spüren Sie als Deutsche besondere Verantwortung bei so einen Film?
Ja. Das ging Christian Friedel genauso, er spielt den KZ-Kommandanten Höß. Es war schon seltsam, in einer polnisch-englisch-amerikanischen Produktion als Deutsche besetzt zu werden. Dadurch steht man unter besonderer Beobachtung – was keine Beschwerde sein soll. Wir haben in Oswiecim, Auschwitz, gedreht. Ich war überrascht, wie herzlich wir empfangen wurden. Die Einwohner hätten allen Grund gehabt, uns zu meiden.
Glauben Sie, dass dieser Film heute besonders wichtig ist in Deutschland?
Der Film ist auf der ganzen Welt wichtig. Aber die aktuelle Situation in Deutschland bedrückt mich tatsächlich. Es macht mich wahnsinnig wütend und traurig, was hier gerade politisch passiert. So wenig wird dagegen unternommen, dass dieses Land nach rechts rutscht.
Wie korrespondiert „The Zone of Interest“ mit unserer Gegenwart?
Der Film bietet keine dramatische Geschichte. Wir sehen Leuten beim Leben zu, die einen schönen Garten haben und ihre Kinder. Gleichzeitig sind sie verantwortlich für den Tod von Millionen von Menschen. Der Film zeigt, was Menschen Menschen antun können, die die ganze Zeit denken, sie machen das Richtige. Wir beobachten, wie schnell so etwas geht. Wie schmal der Grat ist, auf dem wir uns bewegen.
Die Erfolgreiche: Sandra Hüller
„Toni Erdmann“ (2016), natürlich. Mit dieser Tragikomödie hat Sandra Hüller Lachbeben im Kino ausgelöst. Die heute 45-Jährige spielte eine auf Karriere gepolte Unternehmensberaterin, die von ihrem brachialhumoristischen Vater (der verstorbene Peter Simonischek) mit einem Hasenzähne-Partygebiss heimgesucht wird. Aber auch am Theater hat Hüller viel Ruhm eingeheimst. Viermal wurde sie bereits von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Den Gertrud-Eysoldt-Ring erhielt sie 2019 für ihre Rolle als „Hamlet“ in einer Inszenierung des Schauspielhauses Bochum, zu dessen Ensemble sie gehörte.
Ihr Handwerk gelernt hat die 1978 im thüringischen Suhl geborene Hüller an der renommierten Ernst-Busch-Schule in Berlin. Früh machte sie bei der Berlinale Furore: In Hans-Christian Schmids Drama „Requiem“ (2006) verkörperte sie eine katholische Studentin, die von Dämonen besessen zu sein glaubt. Im Großmarkt-Liebesfilm „In den Gängen“ (2018) war sie die Marion aus der Süßwarenabteilung. In „Sisi & Ich“ (2023) begehrte sie als Hofdame der Kaiserin eben diese.
Im Mai galt Hüller als ungekrönte Königin von Cannes mit Hauptrollen in den beiden Siegerfilmen: Im Goldene-Palmen-Träger „Anatomie eines Falls“, der gerade in den Kinos gestartet ist, spielt sie eine unter Mordverdacht geratene Ehefrau – und in „The Zone of Interest“ (Großer Jury-Preis, Start Ende Februar 2024) die Gattin von Rudolf Höß, Kommandant im KZ Auschwitz.