Die Schriftstellerin Sofi Oksanen beklagt in einem Essay die systematische sexuelle Gewalt russischer Soldaten – und die erstaunliche Ignoranz des Westens.
Schriftstellerin klagt Putin anSexuelle Gewalt als Waffe russischer Soldaten
Die Großtante der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen wurde 1944 zu Beginn der zweiten Besetzung Estlands durch die Sowjetunion zu Hause abgeholt und die ganze Nacht lang verhört. Danach verstummte sie. Sie sprach nie wieder mehr als das Wort „Ja“, sie blieb allein, bekam keine Kinder. Was ihr in jener Nacht widerfahren war, wussten alle. Darüber gesprochen hat niemand.
Sofi Oksanen schweigt nicht. Im Gegenteil. Sie ist in ihrer Heimat ein Literaturstar, eine der profiliertesten Autorinnen an der Bruchstelle zwischen den Ländern, die wir zum Westen zählen, und Russland, beziehungsweise der Sowjetunion. Und doch musste auch sie, 1977 geboren als Tochter eines Finnen und einer Estin, ihre Stimme erst finden.
Die Sommer ihrer Kindheit verbrachte sie, in Finnland geboren und aufgewachsen, im damals von der Sowjetunion besetzten Estland. Schrieb sie sonst fleißig Tagebuch, hörte sie damit während dieser Wochen auf. Niemand verbot ihr, über die Sowjetunion zu schreiben, aber „Kinder lernen in autoritären und totalitären System trotzdem, worüber man besser schweigen sollte“, schreibt sie in ihrem neuen Buch „Putins Krieg gegen die Frauen“, das gerade erschienen ist.
Oksanen seziert Putins Politik gnadenlos
Bewusst hat sich Oksanen entschieden, keinen Roman, sondern einen Essay über dieses Thema zu verfassen. Darin vollbringt sie das Kunststück, durchaus emotional ihrer Wut Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig sehr kühl und durch viele Quellen belegt, den Krieg in der Ukraine und vor allem auch dessen Vorgeschichte zu analysieren. Und so viel steht schnell fest: Nicht nur Putins Politik seziert sie gnadenlos, auch der Westen kommt ob seiner jahrzehntelangen Ignoranz nicht gut weg.
Oksanen beleuchtet die systematische sexuelle Gewalt, die Russlands Soldaten gegen Zivilistinnen und Zivilisten in der Ukraine als Waffe einsetzen, denn von ungesteuertem, triebhaftem Verhalten könne keine Rede sein. Man müsse vielmehr fragen, ob „Russland die Vergewaltigungen auch als Instrument des Völkermords einsetzt“. Sexuelle Gewalt gehöre zu den ältesten Waffen der Welt, weil sie so billig und effektiv sei.
Sie traumatisiere und zerstöre ganze Generationen und Gemeinschaften, sei ein beliebtes Mittel der Eroberung. Die Geburtenrate Sowjet-Estlands sei einer der niedrigsten in der Sowjetunion gewesen. Doch weil viele Opfer aus Scham so wie Oksanens Großtante verstummen, sei die Aufklärung so schwierig. „Die sexuelle Gewalt ist von allen Kriegsverbrechen dasjenige, dem am wenigsten Aufmerksamkeit zuteilwird und das historisch unterschätzt wird“, schreibt sie.
Als „Großer Vaterländischer Krieg“ ging der Zweite Weltkrieg in die kollektive Erinnerung Russlands ein. Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee seien dabei ebenso wenig aufgearbeitet worden wie spätere Kriegsverbrechen in Tschetschenien, Syrien und seit 2014 in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine.
In der Erinnerung gehe es in Russland immer nur um Heldentum und Sieg. Dieser Fokus und die Straflosigkeit für begangene Verbrechen führe zu fehlender Empathie für die Opfer, schreibt Oksanen. Abgehörte Telefonate von russischen Soldaten mit ihren Frauen, die ihnen die Erlaubnis geben, in der Ukraine zu vergewaltigen, verweisen auf ein weiteres Problem.
Gewalt gegen Frauen sei in Russland akzeptiert, Hass gegen sie weitverbreitet. Werden Frauen Opfer sexueller Gewalt, würden sie beschuldigt, selbst Schuld an ihrem Leid zu sein. Durch den Eisernen Vorhang sei die zweite Welle der Frauenbewegung nicht in die Sowjetunion gelangt. Feminismus und der Kampf um Frauenrechte gelten laut Oksanen in Russland als verachtenswert, weil westlich. Die Betonung „traditioneller Werte“ sei ein Euphemismus dafür, Frauen ins 19. Jahrhundert zurückzuschicken.
Dieser Hass werde auch im Netz gezielt geschürt. Und die Ukraine, in der es den Versuch gebe, die Gleichberechtigung zu stärken, werde so für Putin und sein System übersteigerter Männlichkeit zur Bedrohung. Misogynie diene in Russland zur Unterstützung der Zentralmacht. Der Krieg in der Ukraine sei deshalb auch ein Krieg zwischen den Geschlechtern und den Geschlechterrollen.
Die imperialistische Politik Russlands habe der Westen lange ignoriert
Oksanen verfolgt mit ihrem Essay aber noch ein anderes Anliegen. Für sie ist der Überfall auf die Ukraine, der sich nun zum zweiten Mal jährt, keinesfalls eine Überraschung, sondern vielmehr eine logische Konsequenz der imperialistischen, oder genauer kolonialistischen Politik, die Russland - und zwischenzeitlich die Sowjetunion - seit langem betreibe. Und die vom Westen über Jahrzehnte vollständig ignoriert worden sei. Sie spricht in Anlehnung an den Begriff Amnesie von einer „Krimnesie“, die nach der Annexion der Krim eingesetzt habe.
„Der russische Kolonialismus ist als Thema der Elefant im Raum“, schreibt Oksanen. Anders als die Eroberungspolitik ehemaliger Kolonialmächte, die auf dem Seeweg vollzogen wurden, führe der russische Imperialismus über den Landweg in nahe gelegene Regionen. Die Geschichte der Krim sei dafür ein Musterbeispiel.
Nach Meinung des Westens endete der Zweite Weltkrieg laut Oksanen mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Für viele Menschen im Einflussgebiet der Sowjetunion sei das anders gewesen, erst das Ende der Okkupation ihrer Länder und deren Unabhängigkeit führte sie in die Freiheit. „Wenn die Einschätzung, wann ein großer Krieg endet, davon abhängt, von welchem Staat aus die Sache betrachtet wird, ist es kein Wunder, dass der Westen nicht verstand, was auf der Krim geschah, und auch nicht, warum es sich nicht nur um einen lokalen Konflikt handelte.“
Wegen ihrer Haltung gegenüber Russland, die sie seit jeher laut äußert, sei sie im Westen früher als hysterische Estin bezeichnet worden, sagte sie kürzlich der „Süddeutschen Zeitung“. Den Fehler macht heute hoffentlich niemand mehr. Es ist schmerzhaft, aber es lohnt sich, Sofi Oksanen zuzuhören. Vielleicht betrachte man Osteuropa nicht mehr nur als exotischen „Hinterhof Russlands“, schreibt sie. Das habe erst der tapfere Widerstand der Ukraine geschafft - „und in diesem Widerstand höre ich die Stimme meiner Großtante“.
Sofi Oksanen: „Putins Krieg gegen die Frauen“, Kiepenheuer & Witsch, deutsch von Angela Plöger und Maximilian Murmann, 336 Seiten, 24 Euro.