Lehrer-Präsident Meidinger„Deutsche Schulen sind deutlich besser als Bildungspolitik“
- Heinz-Peter Meidinger war Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte und ist seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands.
Köln – Herr Meidinger, schon mit dem Titel Ihres Buches gehen Sie hart mit der Bildungspolitik ins Gericht – diese begehe nämlich Todsünden. Ist es wirklich so schlimm?
Heinz-Peter Meidinger: Na ja, das ewige Leben und ihr Seelenheil riskieren Bildungspolitiker vielleicht nicht, aber deren Fehler und Versäumnisse können in der Summe durchaus zum Verlust von Lebenschancen und zum Tod der Bildung führen – da kann man schon von Todsünden reden.
Sie beschreiben die Bildungspolitik als Friedhof, auf dem allerdings ständig Wiederauferstehung gefeiert wird.
Ja in der Tat, es gibt keine verfehlte Reform, keinen Irrtum, keinen Fehler in der Schulpolitik, wo man sicher sein kann, dass sich das nicht demnächst wiederholt.
Reformer müssen nachweisen, dass sie etwas besser machen
Ist dies ein Spezifikum der Bildungspolitik?
Diese Weigerung, aus Versäumnisse und Reformfehlschlägen zu lernen, ist in keinem Politikfeld so ausgeprägt wie in der Schulpolitik. Ich bin ja nicht gegen Schulreformen an sich – nur gegen solche, die nicht wissenschaftsbasiert, die ideologisch geprägt sind, die von oben übergestülpt werden. Gerade in den 60er und 70er Jahren wurde die Bildungspolitik mit der Heilserwartung verknüpft, dass man über Schule und Bildung eine neue Gesellschaft, einen neuen, besseren Menschen schaffen könne. Wer das bezweifelte, wurde oft nicht nur als politischer Gegner, sondern als Feind betrachtet.
Also müsste Schule nach Ihrer Ansicht nach dort am besten funktionieren, wo wie etwa in Bayern wenig Wechsel stattfindet.
Zwar ist Kontinuität nicht der höchste Wert, aber sie ist in der Tat eine sehr wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Schulpolitik. Diese braucht einen langen Atem. Wenn man sich zum Beispiel die neuen Bundesländer betrachtet, so hatten diese 1990 eine Stunde Null – es gab überall dieselben Voraussetzungen. Wenn man sich aber jetzt anhand der Pisa-Ergebnisse anschaut, wie diese Bundesländer abschneiden, dann zeigt sich, dass Sachsen ganz weit vorne liegt. Warum? Weil dort die Bildungspolitik immer in einer Hand lag, verbunden mit den richtigen Weichenstellungen. Deswegen fand ich es auch durchaus einen richtigen Ansatz, dass es in Nordrhein-Westfalen in der letzten Legislaturperiode zu einer Schulfriedens-Vereinbarung, zu einem vorläufigen Ende des Streits über das gegliederte Schulsystem gekommen ist.
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Allerdings gehen Sie mit rot-grünen Schulpolitik in NRW hart ins Gericht: Vieles sei völlig danebengegangen, schreiben Sie, etwa die Inklusion.
Das war sicherlich eine der Ursachen, warum die Grünen bei den letzten Landtagswahlen so abgestürzt sind. Es ist ja interessant, dass die SPD ihre ideologischen Positionen teilweise geräumt hat, und die Grünen diese dann besetzt haben. Die wollten etwa in Hamburg vor einigen Jahren das längere gemeinsame Lernen mit der Brechstange durchsetzen …
Sie machen aus Ihrer konservativen Haltung kein Hehl.
Eine Journalistin hat an meinem Buch kritisiert, ich würde am Status quo festhalten mit ein bisschen mehr Digitalisierung, und das war’s dann. Das ist natürlich nicht so. Aber ich bin in dem Sinne konservativ, als ich glaube, dass gerade in der Bildungspolitik jede Reform etwa durch Modellversuche nachweisen muss, bessere Ergebnisse als das Bestehende zu liefern. Es gibt eine Beweispflicht des Neuen, und diese wurde in der Vergangenheit oft vernachlässigt, von G 8 angefangen bis hin zur Methode „Schreiben nach Gehör“. Ja, ich bin konservativ, weil ich am Bewährten festhalten will, aber natürlich muss sich Schule auch fortentwickeln, so wie die Gesellschaft als Ganzes.
Die Krisensignale sind gerade unüberhörbar
Ziehen Sie doch mal eine Bilanz unter Ihr eigenes Buch: Wie stehen Deutschlands Schüler da?
Trotz der bisherigen Unfähigkeit der Schulpolitik, die großen Probleme zu lösen, versuche ich in meiner Streitschrift zu zeigen, dass die deutschen Schulen deutlich besser sind als die Bildungspolitik. Das bestätigt sich auch in der Corona-Pandemie: Wer wirklich gehandelt und nach passgenauen Lösungen gesucht hat, waren die Schulen vor Ort. In bestimmten Bereichen steht das deutschen Schulsystem sogar etwas besser da als früher: Bei den Leistungsvergleichen, die etwa durch Pisa ermittelt werden, haben wir uns ins obere Mittelfeld vorgearbeitet – allerdings gibt es Warnzeichen dafür, dass wir wieder an Boden verlieren. Die Gruppe der leistungsschwächsten Schüler, die bei der ersten Pisa-Untersuchung bei 23 Prozent lag, konnte zwischenzeitlich auf 17 Prozent abgesenkt werden, aber jetzt steigt die Zahl wieder.
Es gibt wieder Krisensignale?
Ja, unüberhörbar. Das hängt natürlich auch mit dem Lehrermangel zusammen, den Deutschland einfach nicht in den Griff bekommt und der uns überall auf die Füße fällt, beim Unterrichtsausfall, bei der Inklusion, bei der Begabungsförderung. Es gibt zwar Bildungssysteme, die deutlich schlechter sind als das unsere, aber das kann ja keine Rechtfertigung sein, dass wir uns nicht verbessern sollten.
Welches Zeugnis stellen Sie der Politik in der Corona-Pandemie aus?
Eine Lehre aus dem schlechten Krisenmanagement besteht darin, dass es höchste Eisenbahn ist, den Bildungsföderalismus zu reformieren. Ich bin der Überzeugung, dass der Föderalismus viele positive Aspekte hat, aber die Länder sind aktuell nicht einmal imstande, wirklich vergleichbare Abschlussprüfungen oder einen einheitlichen verbindlichen Hygienestufenplan für den Schulbetrieb hinzukriegen. So wie der Föderalismus in Deutschland aufgestellt ist, funktioniert er nicht und ist er auch nicht krisenfest. Wir brauchen dringend einen Bildungsstaatsvertrag, der die Zusammenarbeit der Länder inhaltlich auf eine neue gesetzliche Grundlage stellt. Auch das Einstimmigkeitsprinzip in der KMK gehört auf den Prüfstand. Es ermöglicht derzeit nur Beschlüsse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Zur Person
Heinz-Peter Meidinger, geboren 1954 in Regensburg, war Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte und von 2004 bis 2017 Bundesvorsitzender des Philologenverbands. Seit 2017 ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbands.
Sein Buch „Die zehn Todsünden der Schulpolitik“ erscheint im Claudius-Verlag, 128 Seiten, 15 Euro.
Was glauben Sie, wie es im Hinblick auf Corona weitergeht in den Schulen?
Entscheidend wird sein, ob die Infektionszahlen es zulassen, dass wir ab Mitte Februar wieder zum Präsenzbetrieb zurückkehren können. Wenn das stufenweise wieder gelingt, dann wird ein großer Teil der Schüler die Ziele dieses Schuljahres erreichen. Auch der Durchführung der Abschlussprüfungen steht dann nichts mehr im Wege. Dazu hat die KMK sinnvolle Beschlüsse gefasst, um den Prüflingen entgegenzukommen. Das betrifft die Verschiebung von Prüfungsterminen, aber auch die vermehrte Wahlmöglichkeit von Abiturienten bei Prüfungsaufgaben. Wir sollten alles tun, das Jahr zu einem geregelten Abschluss zu bringen – prüfungsfreie Abschlüsse wären ein dauerhafter unsichtbarer Corona-Stempel auf den Zeugnissen.
Und wie sollte man mit den anderen Jahrgängen umgehen?
Lehrer sollten mehr Freiraum bekommen, Stoff, der noch nicht sicher sitzt, zu wiederholen und sich beim Lehrplan auf die besonders wichtigen Basics zu konzentrieren. Aber eines ist auch klar. Jetzt nach diesem zweiten Lockdown gibt es eine Schülergruppe, die wir schon beim ersten Mal im Distanzunterricht kaum erreicht haben, vor allem Kinder, die ohne elterliche Unterstützung auskommen mussten, Schüler mit Handicaps und Förderbedarf, Jugendliche, die abgetaucht sind. Denen muss geholfen werden, etwa indem man ihnen ein Zusatzjahr einräumt. Ich meine nicht nur die Möglichkeit des freiwilligen Wiederholens, sondern eventuell auch eine Zusammenfassung in eigenen Lerngruppen mit spezifischem Lehrangebot. Ich glaube sogar, dass auch mancher gute Schüler dieses Zusatzjahr in Anspruch nehmen wird, um seinen Abschluss noch zu verbessern – das würde eine solchen Lerngruppe davor schützen, als „Corona-Doofe“ diskriminiert zu werden.