Sebastião SalgadoIst die Menschheit nur ein großer Ameisenhaufen?
- Im Oktober wird der Fotograf Sebastião Salgado mit dem Friedenspreis der Deutschen Buchhandels geehrt.
- Sein neuer Bildband handelt vom letzten großen Goldrausch der Geschichte. Die Bilder sind großartig, aber ein Anwalt der Entrechteten ist Salgado nicht.
- Auf seinen Fotos flößt einem das menschliche Leid vor allem Ehrfurcht ein.
Köln – Im Jahr 1979 brach nahe der brasilianischen Ortschaft Serra Pelada der letzte große Goldrausch der Geschichte aus. Zu Tausenden strömten landlose Bauern in den Regenwald, um sich als Tagelöhner zu verdingen und für die Inhaber der Schürfrechte Massen an Erdreich aus einem 120 Meter tiefen und 300 Meter breiten Loch zu schaufeln. Um das Chaos zu beherrschen, erließ die brasilianische Militärjunta strenge Regeln: Alkohol, Schusswaffen und Frauen waren in der Goldgrube und den umliegenden Hüttendörfern verboten – und auch Journalisten waren nicht gern gesehen.
Sechs Jahre musste Sebastião Salgado warten, bis er auf Einladung der Goldsucher-Kooperative nach Serra Pelada reisen durfte. Als der brasilianische Fotograf 1986 schließlich an den Rand der Goldgrube trat, schien es ihm, als blickten Tausende Gesichter feindselig zu ihm hinauf. Niemand sagte ein Wort, als Salgado, ein blonder Weißer im Khaki-Anzug, zu den Menschen hinabstieg – er wirkte wie ein Kolonialherr, und offenbar hielten ihn die Arbeiter für einen Abgesandten der verhassten Bergbaugesellschaft. Ein Polizist, der Salgado mit einem „Gringo“ verwechselte, kam ihm unfreiwillig zu Hilfe, indem er ihn in Handschellen abführte. Als Salgado aus der kurzen Haft zurückkehrte, brandete Beifall aus dem Erdtrichter herauf.
Die Geschichte von Sebastião Salgados Reise nach Serra Pelada passt perfekt in das Bild, das sich die Welt vom heute weltberühmten Fotografen macht. Es ist das Bild eines Künstlers, der zu den Armen und Entrechteten geht, um wie ein Anwalt mit Aufnahmen ihres Leids zurückzukehren; genau für dieses Engagement wird Salgado im Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.
Zum Teil beruht Salgados Ruhm als Humanist auf einem Missverständnis
Soll man es für einen Schönheitsfehler halten, dass Salgado diese Fabel im gerade bei Taschen erschienenen Bildband „Gold“ selbst erzählt? Im Grunde heißt die Antwort: ja. Andererseits sprechen seine Aufnahmen für sich und erzählen eine zwar andere, aber nicht weniger ergreifende Geschichte.
Die Bilder aus „Gold“ zeigen vor allem Menschenmassen, die man gerne biblisch nennt. Man kennt derartiges sonst von mittelalterlichen Schnitzereien oder den Sandalenfilmen Hollywoods, in denen ein Statistenheer Szenen des Alten Testaments nachstellte. Aber die schmutzigen Menschen auf Salgados Aufnahmen sind unzweifelhaft „echt“ und formieren sich vor dessen Kamera zu einer Wirklichkeit epischen Ausmaßes. Zwar hebt Salgado hin und wieder einzelne Gruppen oder christusgleiche Figuren heraus. Aber seine Grundidee von Serra Pelada ist der menschliche Ameisenhaufen, dessen Erhabenheit gerade darin liegt, das „so etwas“ heute noch möglich ist. Salgados „Gold“-Bilder handeln von der Rückkehr der Archaik in die moderne Welt und lassen uns zugleich vor dem Gedanken schaudern, dass wir den hier beschworenen Überlebenskampf nie überwunden, sondern nur erfolgreich verdrängt haben.
Salgados Bilder erzählen von der Rückkehr längst überwunden geglaubter alter Dramen
Auch in seinen anderen, stets mit großem Aufwand recherchierten Fotobänden ist Salgado kein Anwalt des Einzelnen, sondern der Advokat ewiger Prinzipien. So reiste er für „Exodus“ in über 40 Länder, um dort von Armut, Krieg und Verfolgung ausgelöste Flüchtlingstrecks zu dokumentieren. Ähnlich wie in „Gold“ wechselt Salgado dabei zwischen den Einstellungsgrößen, indem er Porträts einzelner Menschen unter die Gruppenplateaus mischt. Im Gedächtnis bleibt bei ihm gleichwohl der Blick auf Flüchtlingsströme in grandioser Landschaft. Biblisch wirken seine Bilder auch deswegen, weil sie einer göttlichen Perspektive gleichen, und man sich unwillkürlich fragt, warum diesem Gott eigentlich eine Welt voller Elend gefällt.
Tatsächlich hat Salgado viel von der christlichen Malerei und deren Verherrlichung des Leids gelernt. Aber ihm geht es weniger um Verklärung, als darum, die Menschen und ihr Schicksal vor dem Vergessen zu bewahren, indem er sie aus der konkreten Zeit hebt und zu Zeugen eines ewigen Kreislaufes von Schmerz und Hoffnung macht. Das ist im Grunde das Gegenteil der sozialen Dokumentarfotografie, die uns zum Engagement bewegen will. Letztlich sind Salgados Bilder des menschlichen Dramas von anderer Qualität.
Sebastião Salgado: „Gold“, Taschen Verlag, 208 S., 50 Euro.
ZUR PERSON
Sebastião Salgado wurde 1944 in Aimorés (Brasilien) geboren. Er begann zu fotografieren, als er für die in London ansässige Internationale Kaffeeorganisation nach Afrika reiste und die dortigen Verhältnisse festhalten wollte. Im Jahr 1973 machte er sich als Pressefotograf selbstständig und arbeitete für verschiedene Agenturen. Ein Zufall verschaffte ihm 1981 die finanzielle Unabhängigkeit, um verstärkt eigenen Projekten nachzugehen: Während einer Fotoreportage über den US-Präsidenten Ronald Reagan wurde auf diesen ein Attentat verübt; Salgado war vor Ort und konnte seine Aufnahmen zu Höchstpreisen in alle Welt verkaufen.
Bekannt wurde Salgado mit aufwendig recherchierten Bildbänden über die weltweiten Flüchtlingsbewegungen, archaische Arbeitsverhältnisse oder das bedrohte Ökosystem der Erde. Seine schwarz-weißen Aufnahmen haben eine geradezu biblische Kraft, wie sie in der modernen Fotografie selten ist, die Titel seiner Bücher zielen auf Allgemeingültigkeit: „Genesis“, „Africa“, „Workers“ – und im Deutschen: „Exodus“ . Am 20. Oktober erhält Salgado in der Frankfurter Paulskirche als zweiter Bildkünstler den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. (KoM)