Das Ende des Tatorts am 10.09. dürfte wohl alle überrascht haben. Der stimmungsvolle Krimi „Erbarmen. Zu spät.“ ist zwar sehr langsam, geht aber kunstvoll mit einem großen Konflikt um.
So war der Tatort aus FrankfurtMit diesem Ende hat wohl keiner gerechnet
Der „Tatort“ kam mit einem theatralen Experiment aus der Sommerpause („Gold“ am 03.09.) und auch die aktuellste Folge mit dem Titel „Erbarmen. Zu spät.“ bemüht sich um einen ungewöhnlichen Zugang zum Genre. Wie gewohnt strahlt die ARD den Tatort am Sonntag (10.09.) um 20:15 Uhr aus.
Die Eingangsszenen könnten dabei durchaus noch von einem klassischen Krimi stammen. Die Zuschauer verfolgen die letzte Schicht des Polizisten Simon Laby (Sebastian Klein). Nach einem recht gewöhnlichen Arbeitstag fährt er in die Dunkelheit einer abgelegenen Landstraße - und dunkel wird es fast in der gesamten Folge bleiben, die hauptsächlich nachts spielt.
Als Laby gerade den Alarm seiner Armbanduhr auf 6 Uhr morgens einstellt, rollt ein weiteres Auto mit zwei ominösen Gestalten heran. Laby scheint mit ihnen kriminell verbandelt zu sein, doch er will nicht mehr, da seine Frau hochschwanger ist. Die Zuschauer ahnen bereits: Man kommt zwar raus aus dem Ganzen, aber selten so, wie man eigentlich möchte.
Kommissar Paul Brix verliert schnell die Geduld
Eine Szene später sitzt einer der Täter, die Simon Laby mutmaßlich getötet haben, in Polizeigewahrsam. Der stadtbekannte Rechtsextreme Anton Schilling (Niels Bormann) hat sich selbst der Polizei gestellt, um ihnen den Ort zu zeigen, an dem er Laby vergraben hat, und führt eine kleine polizeiliche Auto-Kolonne durch die Nacht.
Schilling macht einen perplexen Eindruck und seine Tipps sind nicht unbedingt hilfreich: „Das war irgendwie'n Acker, aber anders. Und der Wald war irgendwie größer, dichter.“ Oder auch: „Der Boden… der war irgendwie anders. Steckrüben oder so.“ Es ist dunkel, er war betrunken, er erinnert sich nicht richtig. Kommissar Paul Brix, der wegen seines verlorenen Führerscheins mit seinen Kollegen Decker (Uwe Rohde) und Goosens (Christoph Pütthoff) mitfährt, wittert, dass Schilling irgendetwas verheimlicht.
Da es um einen verschwundenen Polizeikollegen geht, verschiebt auch der schnurrbärtige Polizist Glasner (Karsten Antonio Mielke) seinen Feierabend, um bei der Suche zu helfen, und muss Brix rügen, als er Schilling wegen seiner vagen Angaben zusammenfaltet. Der Verdächtige grenzt schließlich doch den ungefähren Suchbereich ein, dann bekommt er aber eine Panikattacke.
Anna Janneke kommt mit dem entscheidenden Hinweis
Hauptkommissarin Anna Janneke (Margarita Broich), die parallel zur Suche Labys Frau befragt hat, kommt mit einem entscheidenden Tipp. Laby soll in einer Waldhütte öfter mit Freunden gegrillt haben. Dort finden die Ermittler beunruhigend viele Waffen, Vorräte und SS-Zeitschriften, zudem ein Fake-Polizeiauto und Hinweise auf ein zweites, das unterwegs ist. Ein ganzes rechtes Netzwerk, das auch die Polizei infiltriert hat.
Und ein weiterer Tipp führt die Ermittler weiter. Ein Polizeikollege, den Brix aus seiner Zeit bei der „Sitte“ kennt, soll auch mit Laby befreundet sein: Radomsky (Godehard Giese). Doch wie passt er da rein? Radomsky wurde in der Vergangenheit offenbar zu seinem eigenen Schutz versetzt, weil er einen rechten Chat gemeldet hatte. Brix kann sich nicht vorstellen, dass er etwas mit den Vorfällen zu tun hat. Das passe einfach nicht zu ihm.
Die Folge behandelt Rechtsextremismus in der Polizei
Die Zuschauer erfahren schließlich, wieso Schilling so zurückhaltend und ängstlich ist: Ein paar schwarze Schafe sind auch unter den Polizeikollegen, die bei der Suche helfen. Schilling kann oder will sie aus irgendeinem Grund nicht als Rechtsextremisten outen.
Spätestens als die Ermittler erfahren, dass auch Laby damals in Radomskys Einheit war, geht Brix seinem Ex-Kollegen nach. Als er ihm gegenübersteht, stellt sich dieser - was Brix nicht weiß - als der zweite Mann heraus, der neben dem geständigen Schilling Laby in der Mordnacht traf. Da Radomsky auf dem Weg war, um mit Freunden jagen zu gehen, trifft Brix die kuriose Entscheidung, einfach mitzukommen.
Einer von Brix Kollegen stellt sich als Verräter heraus
Wie erwartet, geht das gewaltig schief: Radomsky und Freunde nehmen ihm Waffe und Handy ab. Der Kommissar beobachtet sogar, wie die Schergen Schilling in den Wald führen, um ihn hinzurichten. Den hatte nämlich seine „Anwältin“ den Polizisten entrissen, nur um ihn dann seinen rechten Kollegen auszuliefern, die sich als Polizisten verkleidet hatten.
Und wie sich herausstellt gehört auch Polizist Glasner, der Mann mit dem Bösewicht-Schnörres, zum rechten Netzwerk und konnte so die Suche nach Laby behindern. Brix versucht Radomsky von seinem Irrweg zu überzeugen, läuft damit aber nur gegen eine argumentative Wand.
Doch statt ihn ebenfalls zu töten, lassen die Rechtsextremen Brix irgendwo in der Pampa frei. Radomsky ist überzeugt, dass die Ermittler keinerlei Hinweise finden werden, und prophezeit, dass ein Regen in der Frühe die letzten Spuren verwischen werde. Auf Brix Nachfrage, ob sie jetzt sogar das Wetter zu kontrollieren glauben, sagt er nur: „Wenn wir wollen, dass es regnet, dann regnet es.“
So endet „Erbarmen. Zu spät.“
Als um 6 Uhr morgen Labys Alarm klingelt, den er in weiser Voraussicht vor seinem Tod eingestellt hat, können die Ermittler zwar den toten Polizisten bergen. Doch Radomskys Schergen haben sogar die Kugel aus seiner Kopfschuss-Wunde herausgeholt. Brix kann nach einer Jogging-Runde ein Auto anhalten, um zu seinen Kollegen aufzuschließen - es sind eben die Jugendlichen, die Laby im Parkplatz gewähren ließ. Dank seines Anrufs können sie Radomsky in seinem Pickup festhalten.
Auf seiner Ladefläche liegt aber nicht, wie Brix glaubt, Schillings Leiche, sondern nur ein Wildschwein. Der frustrierte Brix schlägt Radomsky ins Gesicht und muss von seinen Kollegen zurückgehalten werden. Dann rollt eine Partygesellschaft in einer Limousine heran, die den Vorfall filmen will. Am Ende fängt es an, Blut zu regnen. Die verschreckten Partygäste flüchten sich zwar wieder in ihre Limousine, feiern aber - bis auf eine Person - ausgelassen weiter.
Fazit zu „Tatort: Erbarmen. Zu spät“
Das ist wieder einmal einer dieser Tatorte, die beim Nachdenken immer besser werden. Es ist eine immense Stärke, wie kleine Details sich zu einem großen Ganzen fügen. Dass ausgerechnet dieselben fahrenden Jugendlichen Brix einsammeln, die Laby zuvor hat ziehen lassen, überzeugt rein handlungslogisch nicht unbedingt. Aber dass Laby in Voraussicht seines Todes mit einem Sack Grillkohle im Kofferraum auf seine Kumpanen hinweist und mit dem Alarm in seiner Armbanduhr letztlich die Polizisten an sein eigenes Grab führt, sind gelungene Details des in sich sehr stimmigen Falls.
Die Folge überzeugt vor allem durch Stimmung. Die einengende Dunkelheit, die elektronische Retro-Musik und die Erzählungen, die Figuren wie Laby, Gosens oder Radomsky immer wieder einstreuen, schaffen eine Atmosphäre der Resignation, der Sinnlosigkeit. Diese Stimmung kommt nicht ohne Preis, denn besonders die scheinbar endlose Suche nach Laby lässt die Handlung nur extrem langsam voranschreiten, die ständige Dunkelheit wird irgendwann eintönig. Wirklich spannend ist dieser verzweifelte Tatort höchstens wegen Brix Lebensmüdigkeit, sich Radomsky so auszusetzen. Oder wer geht schon geistesgegenwärtig mit einem Rechtsextremen auf die Jagd, und das auch noch nachts?
Auch der Blutregen ist trotz der Überraschung stimmig
Doch genau das ist der Punkt. Die Stimmung und der naive Umgang mit dem Rechtsextremismus zeugen von der Hilflosigkeit der Polizei angesichts eines Konfliktes, in dem die eigenen Kollegen zu den Verdächtigen gehören. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso Radomsky Brix am Ende einfach ziehen lässt, was zunächst höchst fragwürdig erscheint, nachdem er ihm seine ganzen Verfehlungen gezeigt hat. Die Dunkelheit wird so zur Metapher für eine Polizei, die selbst unter Brix Zeugenschaft keinen Lösungsansatz für das Problem findet. Besonders deutlich wird die Hilflosigkeit im Dialog zwischen Brix und Radomsky. Der Kommissar kann mit keinem Wort zu ihm durchdringen, kann einfach nicht glauben, wen er da vor sich hat.
Der Blutregen am Ende kommt natürlich völlig unvermittelt, auch wenn Lichteffekte immer wieder surreale Momente geschaffen und so darauf vorbereitet haben. Das ungewöhnliche Wetterphänomen (ist es Regen mit rotem Sahara-Staub oder die Apokalypse?) spielt direkt in Radomskys Allmachtsphantasie, legt die Ohnmacht der Ermittler und die Skurrilität der Feiergesellschaft offen, die auch blutüberströmt ein „Weiter so!“ anstimmt. Selten hat ein Tatort-Ende so überrascht. Trotz des unerwarteten Paukenschlags ist die Folge am Ende stimmig.