Star-Regisseur Luk Perceval in Köln„Wir sind alle Kinder süchtiger Familien"
- Der Belgier Luk Perceval gehört zu den besten Regisseuren des deutschsprachigen Theaters.
- Nun inszeniert er Eugene O'Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Schauspiel Köln.
- Im Interview klagt er auch über den fehlenden Mut zum Risiko am Theater.
Köln – Luk Perceval, Sie inszenieren erstmals am Schauspiel Köln, und haben sich dazu einen Klassiker ausgesucht, Eugene O’Neills Familiendrama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“. Warum?
Luk Perceval: Ich habe zusammen mit Beate Heine und Stefan Bachman sehr lange überlegt, was man machen könnte. Wir sind erst fünf vor zwölf auf dieses Stück gestoßen, es war eigentlich Stefans Vorschlag gewesen. Das Stück stand schon sehr lange auf meiner Wunschliste. Als ich es dann wieder gelesen habe, war ich überrascht, wie modern es ist. Seit 2017 sterben in Amerika täglich 200 Menschen an Opioiden. O’Neill untersucht die Wurzeln dieser Epidemie. Weil deren Echo über viele Generationen hallt, bekommt es die Tiefe einer griechischen Tragödie. Wir sind alle Kinder süchtiger Familien. Ich habe zuletzt einen Romanzyklus von Émile Zola gemacht und da ist mir klar geworden, dass wir alle Kinder von Arbeitern sind, die nur eine Entspannung hatten, nämlich das Trinken. Diese Suchtmuster haben bis heute Einfluss auf unser Verhalten. Klar, O’Neill hat das zu Anfang des Zweiten Weltkriegs geschrieben, damals hatte er gerade Freud entdeckt und versuchte logische Erklärungen für das Leiden der Familien zu finden. Inzwischen ist Freud natürlich durch neue Erkenntnisse, zum Beispiel in der Neurowissenschaft, relativiert worden.
Die Familienstrukturen, von den Freud ausgegangen ist, haben sich auch völlig verändert.
Perceval: Auch das. Was bei „Eines langen Tages“ aber bis heute fasziniert, ist die Tatsache, dass das Stück extrem autobiografisch ist. Teilweise habe ich O’Neills Regieanweisungen mit in den Text genommen, weil ich die in ihrer Detailbesessenheit so faszinierend finde. Allein, wie er über die Hände seiner Mutter schreibt. Wie er sich an jedes Detail über die Beziehung seiner Eltern erinnert. Und sich selbst als jüngster Sohn in dieser Beziehung positioniert, er kommt ja als „Edmund“ im Stück vor. Die Mitleidlosigkeit, mit der O’Neill seine eigene Familie analysiert, fand ich in dem Sinne sehr modern, als sie weitergeht, als der durchschnittliche amerikanische Film heutzutage. Dort endet alles mit „I love you“ und „I love you too“, und es wird alles erklärt. Bei O’Neill lässt sich das Problem nicht mehr auf seinen Ursprung zurückführen.
Das Ziel jeden amerikanischen Films ist die Bildung einer Familie, hier ist es genau das Gegenteil, die Explosion einer Familie.
Perceval: Ja, jeder amerikanische Film versucht die Nation zusammenzuhalten, ein glückliches Gesamtes zu zeigen. O’Neill versucht dagegen nicht, die Wirklichkeit zu vertuschen. Er zeigt die Rückseite des amerikanischen Traums. Ich glaube, das ist auch die Aufgabe des Theaters, zu versuchen, sich der Wirklichkeit bewusster zu werden. Wir isolieren ein Stück der Wirklichkeit und rahmen es ein, auch, damit wir uns unserer eigenen Verantwortlichkeit in dieser Wirklichkeit bewusst werden. In „Eines langen Tages“ geht es um etwas, was wir alle kennen: Um Väter und Mütter, um Kindsein. Um Muster, die sich in der Familie wiederholen, von denen man mit 20 noch glaubt, sich befreien zu können.
Spätestens, wenn man selber Kinder kriegt, erkennt man die Muster ja wieder. Hier geht es aber auch um eine ganz spezielle Familie, um eine Theaterfamilie.
Perceval: Der Vater ist zwar ein erfolgreicher Schauspieler, aber er fühlt sich dabei total schlecht. Das ist auch autobiografisch, O’Neills Vater James hat 6000 Mal den Grafen von Monte Christo gespielt. Als er gefragt wurde, wie sich das anfühle, hat er gesagt, dass sei wie ein Ertrinkender, der einem am Nacken hängt und den man am liebsten bewusstlos schlagen will, damit er einen nicht mit herunterzieht.
Zur Person
Luk Perceval, geboren 1957 in Lommel/Belgien, ist Regisseur und Autor. Perceval studierte Schauspiel, 1984 gründete er die Theaterkompanie Blauwe Maandag Compagnie, die die belgische Theaterlandschaft viele Jahre maßgeblich geprägt hat. „Schlachten!", die zehnstündige Rosenkriegsadaption nach William Shakespeare am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, brachte Perceval den Durchbruch in Deutschland. Am Freitag, den 15. 11. gibt Perceval mit Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" seinen Einstand am Schauspiel Köln. Weitere Termine: 17.11.; 12., 14., 15., 29. 12., im Depot 1
Sie haben selbst als Schauspieler angefangen. Das Schicksal hätte Ihnen auch blühen können.
Perceval: Ich habe 1980 angefangen und 1984 aufgehört mit der Schauspielerei. Ich war beim Nationaltheater in Antwerpen, hatte zuletzt sogar eine Hauptrolle in einer Fernsehserie. Das war schön für meine Eitelkeit, aber ich habe mich für die Serie geschämt. Ich hatte das Gefühl, jedem gefallen zu müssen. Das ist für einen Schauspieler tödlich. Es geht nicht darum, die Leute zu unterhalten, damit sie Produkte kaufen. Ein Schauspieler ist ein Schamane, jemand der uns hilft, uns selber und das Leben zu verstehen.
Die Situation sieht für Schauspieler heute aber nicht wirklich besser aus, oder?
Perceval: Im Gegenteil. Junge Schauspieler können kaum ihre Miete zahlen. Irgendwann wird das zu einer Katastrophe führen. Die Institute hängen fest an ihren gesetzlichen Verabredungen. Alle deutschen Stadttheater benutzen ihre Subventionen dazu, ihre Verwaltung zu bezahlen, die Kunst muss sich mit den Einnahmen selbst finanzieren. Das bedeutet, dass alles, was produziert wird, Erfolg haben muss.
Das deformiert das Programm?
Perceval: So ist es und das merkt man auch: Es wird viel weniger riskiert. Ich habe 20 Jahre lang fest in Deutschland gearbeitet. Einer der Gründe, warum ich jetzt wieder frei arbeite, ist, dass es in jeder Direktionssitzung nur noch um zwei Dinge ging: Titel und Star. Ich bin in den 70ern auf die Schauspielschule gegangen, da waren Peter Brook, Tadeuz Kantor und Grotowski die wichtigen Leute. Die kennt heute keiner mehr, heute sollst du Leute von Netflix besetzen.
Und dabei wollten Sie nicht mehr mitmachen?
Perceval: Ich denke, dass ich in das Alter gekommen bin, in dem ich nur noch die Stoffe mache, die ich unbedingt machen will. Wären wir nicht zu einem guten Stoff gekommen, säße ich heute nicht hier. Der andere Grund für Köln ist der Raum. Das Eingeengtsein in diese Guckkästchen hat mich frustriert. Dieser Raum, das Depot 1, ist ein Geschenk. Viel wichtiger als das Thema Theater finde ich aber ein anderes bei „Eines lange Tages“, nämlich das Thema Schuld.
Erklären Sie.
Perceval: Liebe bringt Schuld mit sich. Und sicherlich die Liebe zwischen Eltern und Kindern. Du hast immer das Gefühl, es ist nicht genug, oder du hast etwas falsch gemacht und musst dich dafür verantworten. Das geschieht nicht bewusst. Das sitzt in einem drin, das ist von der Natur in dich eingeschrieben. Du erträgst es nicht, wenn deine Mutter drogensüchtig ist, wie bei „Eines langen Tages“. Man erträgt es nicht, wenn der Sohn Krebs hat. Bei O’Neill ist es Tuberkulose, das haben wir geändert.
Sie lassen das Stück also in der heutigen Zeit spielen?
Perceval: Wir versuchen dem Stück eine heutige Dimension zu geben. Dieses Unrecht der Krankheit, die Abhängigkeit der Mutter ist ja auch eine Art von Krankheit, ruft sofort Schuldgefühle auf. Ich glaube, Liebe ist, dass man das Leiden der anderen spürt. Wenn man das nicht lindern kann, ergibt das die Schuld. Und die wird in dieser Familie in großen Buchstaben in jeder Szene hin und her geschoben. Das Unvermögen ist so groß, die Ohnmacht. Was hätte man tun können?
Man könnte Familie definieren als diejenigen, die Schuld haben…
Perceval: Wahrscheinlich. Die Familie ist die Mutter der Schuld. Eigentlich geht es bei O’Neill um die Frage, wo wir mit unserem Denken scheitern. Wo irren wir uns? Ich glaube, unser großes kulturelles Problem ist, dass wir mit so etwas wie Krankheit nicht umgehen können. Das wir vom Leben erwarten, es sei ein Märchen. Da kann man nur enttäuscht werden. Das ist heute sogar noch mehr Teil unserer Kultur als zurzeit von O’Neill.
Jetzt ist das Stück bald 80 Jahre alt. Wie gehen Sie das heute an, arbeiten Sie das psychologisch durch?
Perceval: Klar versucht man für die Charaktere gewisse Verhaltensmuster zu entdecken. O’Neill war einer der ersten, der versucht hat, Naturalismus auf der Bühne zu zeigen. Aber er hat nach den dramaturgischen Gewohnheiten seiner Zeit versucht, seine Charaktere beständig zu erklären. Ich glaube, diese Dramaturgie brauchen wir heute nicht mehr. Wir denken schneller.
Das merkt man ja schon, wenn man nur 20 Jahre alte Fernsehserien anguckt.
Perceval: So ist es. Diese ganze Exposition braucht man nicht mehr. Bei den wiederholenden Erklärungen haben wir also massiv gestrichen. Wir sind von unserer Bildkultur dazu erzogen worden, noch mehr zu assoziieren, Dinge sehr schnell über sehr kurze Einblendungen zu verstehen. Filme, vor allem Dokumentarfilme, können dem Leben viel näher kommen, die Bühne braucht im Gegensatz dazu eine Art von Verfremdung, damit wir uns die Realität umso plastischer vorstellen können. Ich bin fasziniert von Menschen, von Schauspielern. Ich habe das Bedürfnis, sie nah zu erfahren, sie in ihrer Würde zu zeigen. Dazu muss ich ihre Augen sehen.
Da hat der Film mit seinen Großaufnahmen allerdings einen Riesenvorteil.
Perceval: Ja, aber er ist eindimensional. Wir bleiben uns immer der Tatsache bewusst, dass es sich um ein Bild handelt, das auf eine Leinwand projiziert wird. Weil Theater aber dreidimensional arbeitet, eröffnet es die Möglichkeit, dass du dich mit dem Menschen identifizieren kannst und die Konvention des Theaters vergisst. Die Frage ist: Wie wird Theater filmisch, ohne auf der Bühne Videos zu zeigen? Denn das finde ich eine platte Umsetzung. Das lenkt nur ab. Ich muss eine Form für die Bühne entwickeln, durch die der Mensch transparent wird.
Und wie sieht die aus?
Perceval: Kommen Sie gucken!