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AnalyseNeil Young fordert Spotify-Mitarbeiter auf zu kündigen. Sollten wir das auch?

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Spotify-Gründer Daniel Ek 

Stockholm – Rocklegende Neil Young hat in der vergangenen Woche seine Musik von Spotify unter Protest abgezogen. Als Grund gab er an, der Streamingdienst verbreite Corona-Fehlinformationen. Hauptschuldiger sei der Moderator Joe Rogan. Dessen „The Joe Rogan Experience“ ist der derzeit beliebteste Podcast auf Spotify. Das Unternehmen hat rund 100 Millionen Dollar für die Exklusivrechte gezahlt. In einem neuen Statement korrigiert Young seinen Standpunkt: Nicht Rogan, sondern Spotify-Gründer Daniel Ek sei das große Problem.

Der Musiker wandte sich direkt an die Mitarbeiter der Plattform: „Ek zieht die Fäden. Verlassen Sie diesen Ort, bevor er Ihre Seele auffrisst. Bei den von Ek genannten Zielen geht es nur um Zahlen – nicht um Kunst, nicht um Kreativität.“

Man solle beachten, dass Ek nie die Mediziner erwähne, die die Auseinandersetzung um Corona-Fehlinformationen begonnen hatten. Hier irrt Young: In seinem ersten Statement nach Youngs Ankündigung seine Musik von Spotify zu entfernen, bezog sich Ek explizit auf den Offenen Brief, den mehr als 400 Mediziner an ihn geschrieben hatten.

Bislang sind denn auch nur wenige künstlerische Mitstreiter aus alten Tagen dem Beispiel Youngs gefolgt. Joni Mitchell, Graham Nash, Nils Lofgren. Eine Massenbewegung ist das noch lange nicht. Der Ball liegt damit nicht nur im Feld Spotify-Angestellten, sondern auch der rund 300 Millionen Kunden – und damit eventuell auch bei Ihnen. Die Frage lautet: Können Sie noch guten Gewissens Spotify nutzen?

Wir wollen Ihnen eine kleine Entscheidungshilfe geben.

Derzeit kann man bei Spotify noch Neil Youngs Auftritt beim Live-Aid-Festival nachhören. Und das war’s. Als Neil-Young-Fan sollte man also schon aus rein praktischen Gründen den Anbieter wechseln.

70 Folgen der „Joe Rogan Experience“ gelöscht

Reduziert, wenn auch nicht so radikal, hat sich allerdings auch das Spotify-Angebot des Podcasters Joe Rogan: Mehr als 70 Episoden der „Joe Rogan Experience“ hat der schwedischen Streamingdienst am vergangenen Freitag stillschweigend gelöscht. Weniger als verspätete Reaktion auf Neil Youngs Boykottaufruf wegen der Verbreitung von Corona-Falschmeldungen durch Rogan und seine Gäste.

Sondern als Antwort auf einen Videozusammenschnitt, mit dem die schwarze Sängerin India Arie ihren Rückzug von der Plattform begründet. Der zeigt Ausschnitte der „Joe Rogan Experience“, in denen der Moderator oder seine Gäste das N-Wort benutzen. Es sind nicht wenige – wie gesagt, 71 Episoden wurden daraufhin gelöscht – und wenn sie auch aus ihrem jeweiligen Kontext gerissen sind, so muss man doch fragen, in welchem Kontext der Gebrauch des rassistischen Schimpfwortes denn in Ordnung sein könnte?

Zeigt Spotify Reue oder ist das nur PR?

Reicht Ihnen die Gewissheit, dass Spotify die betreffenden Folgen nicht mehr anbietet und zudem angekündigt hat, 100 Millionen Dollar für die Lizenzierung, Entwicklung und Vermarktung von Inhalten historisch marginalisierter Gruppen auszugeben? Der „Tagespiegel“ schimpft das „Ablasshandel“. Bedenkt man, dass die Summe wohl nicht zufällig derjenigen entspricht, die Spotify an Joe Rogan gezahlt hat, kommt man nicht umhin, festzustellen, dass es sich hier um Public Relations handelt – und nicht um Reue oder guten Willen.

Derweil hat Chris Pavlovski, Chef der kanadischen Video-Plattform Rumble, Joe Rogan ebenfalls 100 Millionen Dollar (über vier Jahre verteilt) angeboten, wenn der zu der vor allem unter Rechten beliebten Plattform wechsele. Rumble, so Pavloski, würde alle alten und kommenden Folgen der „Joe Rogan Experience“ ausstrahlen, ohne jede Zensur.

Sagen wir also, sie kündigen ihr Spotify-Abo. Je nachdem, wie lange und intensiv Sie die Plattform nutzen, kann sich das fast wie eine Scheidung anfühlen. Es gibt jedoch relativ simple technische Lösungen, mit denen Sie Ihre mühsam zusammengestellten Playlisten in einen anderen Streamingdienst überführen können (zum Nachgoogeln: TuneMyMusic, FreeYourMusic, oder SongShift). Da bleibt dann nur noch die Macht der Gewohnheit als Argument.

Sind Apple oder Amazon moralisch überlegen?

Aber sind andere Anbieter denn so viel besser? Technisch gesehen schon: Auf Apple Music, Amazon Music und beim kleineren Konkurrenten Tidal können Sie Ihre Musik in CD-Qualität abspielen. Der Unterschied ist wirklich eklatant. Spotify verspricht zwar seit längerem nachzuziehen, hat aber bis heute keinen Stichtag dafür genannt.

In Fragen der Moral fällt die Antwort sehr viel weniger eindeutig aus. Man muss nicht lange suchen, um auf Apple oder Amazon ähnlich problematische Podcasts zu finden, wie den von Joe Rogan. Wir müssen an dieser Stelle wohl auch nicht die bekannte und berechtigte Kritik an den Arbeitsbedingungen von Amazon und Apple erwähnen.

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Der Unterschied zwischen den Anbietern liegt eben darin, dass Spotify Rogan exklusiv verpflichtet hat und damit den Sprung von der Plattform zum Content-Produzenten gemacht hat. Der bringt auch eine größere Verantwortung für die Inhalte mit sich.

Das Argument von Spotify-Chef Daniel Ek, dass man einerseits klare Grenzen setze, aber anderseits niemanden „canceln“ wolle, nur weil man nicht mit dessen Meinung übereinstimmt, ist schlicht falsch. Spotify verteidigt hier nicht tapfer das Recht auf freie Meinungsäußerung, sondern beschützt seine Investment. Ek hat den Podcast ja gerade deswegen eingekauft, weil Joe Rogan der Ruf vorausseilte, sich nicht um politische Korrektheiten zu kümmern und Kontroversen zu generieren. Das ist, als würde man einen stadtbekannten Schläger einkaufen und ihm nach erfolgtem Kampf erklären, wo genau er nicht hätte hinhauen dürfen.

Scheinheiliger Neil Young

Freilich gab es auch Stimmen, die Neil Young Scheinheiligkeit vorwarfen, weil er es sich eben leisten kann, seine Musik von Spotify abzuziehen, während das eigentliche Problem ja darin bestünde, dass alle Streamingdienste die Musiker, mit deren Produkten sie Millionen umsetzen, am langen Arm verhungern lassen. Spotify zahlt 0,003 Dollar pro Stream aus, Amazon ein wenig mehr und Apple noch ein wenig mehr. Aber so, dass es für Musiker zum Überleben reichte, zahlt keiner der großen Drei. Für Musiker dürfte die größere Reichweite von Spotify das entscheidende Argument sein und die einzige Lösung sowieso darin bestehen, ihre Musik auf allen Plattformen anzubieten.

Wem es wirklich um Fairness zu tun ist, der kauft physische Tonträger in Fachgeschäften. Vinyl boomt schon lange. Laut einer Statistik des „Billboard“-Magazins sind 2021 auch zum ersten Mal seit 17 Jahren die CD-Verkäufe wieder gestiegen. Oder Sie nutzen Bandcamp: Die Plattform lässt Musiker ihre Songs und Alben selbst hochladen und zu einem von ihnen festgelegten Preis verkaufen. Seit der Pandemie verzichtet die Seite an jeweils einem Freitag im Monat auf ihre Anteilskosten: Was Sie zahlen, kommt allein den Musikern zugute. Das gibt es sonst nur nach Konzerten am Merchandise-Tisch.

Bandcamp als Alternative

Sie finden auf Bandcamp vereinzelt große Namen wie Björk oder Radiohead. Aber vor allem kleine, unabhängige Künstler – und eben nicht jede Musik der Welt. Als wirkliche Alternative zu Spotify kann man den Online-Musikdienst also nicht bezeichnen.

Die Crux des Problems liegt letztlich weniger bei der Frage, wie man auf Joe Rogan reagieren sollte, sondern in der Illusion, man könnte für läppische 10 Euro im Monat jederzeit und an jedem Ort jede Musik der Welt hören, und alle würden dabei reich und glücklich.