Verderben, Virtuosität, Verzweilfung: Die belgische Tanzkompanie gastierte im Schauspiel Köln mit ihrer neuen Produktion „S 62°58', W 60°39'“.
Tanzgastspiel in KölnPeeping Tom zeigt die Kunst im ewigen Eis gestrandet
Eine Schneewüste. Der Wind pfeift, das Eis knirscht und zwischen spitz aufragenden Schollen eingeklemmt ächzt ein Boot. Ein Tänzer zerrt an einem Seil, um das Boot zu befreien und bewegt sich dabei mit ruckeligem Robot-Dance als wären seine Glieder klirrend-starr - man fürchtet, er könnte zerbrechen wie eine Eisfigur.
Diesmal sitzen wir mit Peeping Tom also fest in Kälte und arktischer Dunkelheit auf den GPS-Koordinaten „S 62°58', W 60°39'“, die dem Stück den Titel geben. Und der Tod tanzt als weiße Wehen von Anfang an um das Tänzergrüppchen herum. Alles wie immer also bei der belgischen Star-Kompanie, die seit vielen Jahren regelmäßiger Gast bei Tanz Köln ist und zu den Besten des Genres Tanztheater gehört: Verderben, Virtuosität, Verzweiflung, zu der sich bald eine abgründige Komik gesellt und alles in einem fantastisch gebauten Setting. Alles wie immer?
Das Ensemble rebelliert in der apokalyptischen Welt von Peeping Tom
Nicht ganz. Denn diesmal haben die Performerinnen und Performer einfach keine Lust mehr auf die Apokalyptik ihres Regisseurs namens Franck, der seit über 20 Jahren seine Kindheitstraumata auf der Bühne bearbeitet. Die eisige Peeping-Tom-Welt erweist sich also nur als Probe, auf der das Ensemble nun rebelliert. Die eine Tänzerin ist genervt von den Geschlechterstereotypen von Regisseur Franck, der in Frauen immer nur Gewalt-Opfer sieht - „Viva la Vulva!“, jauchzt sie stattdessen. Eine andere findet, sie müssten endlich mal die ökologischen Aspekte berücksichtigen: Mehr Nachhaltigkeit auf und hinter Bühne - also versucht sie sich in der Reanimation einer Polyester-Fisch-Requisite. Und ein Performer fordert statt autobiografischer Authentizität mehr Fantasie vom Regisseur.
Szene für Szene kommen hier die Debatten und Dilemmata zur Sprache, in denen das Theater festsitzt wie das Boot in der Eisscholle: #MeToo, Klimabilanzen in der Kultur, Ausbeutung und hierarchische Strukturen im Theater, mit einem gottgleichen Regisseur, der in diesem Stück nur als Stimme aus dem Off präsent ist und sanft, aber eben doch autoritär seine Ansagen macht.
Diesmal steckt also weniger der Mensch, als die Kunst in der Krise bei Peeping Tom. Das Theater, das die Moral, die es predigt, selbst kaum lebt - oder: leben kann? Von existenzieller Dringlichkeit sind auch diese Debakel. Der Schmerz ist echt, aber Regisseur Franck Chartier kredenzt ihn konsumierbar als selbstreferenzielle Satire auf den zeitgenössischen Tanz, mit zahlreichen Verweisen auf Kolleginnen und Kollegen wie Jan Fabre, Alain Platel und natürlich das eigene Œuvre.
Und er verblüfft natürlich auch im aktuellen Stück mit Slapstick und durchgeknallter Schocker-Fantasie. Von der verstörenden Vergewaltigungsszene, die allerdings von der Frau als Solo getanzt wird, was zu einer bizarren Abstraktion führt. Bis zum Pas-de-Deux mit Polyester-Fisch an der Angel.
Am Ende gibt der Performer Romeu Runa in einem furiosen Monolog den Tanztheater-Gollum, der nicht weiß, ob er bloß charmanter Entertainer oder garstiger Provokateur mit kritischer Mission sein soll. Und besser als mit dieser Szene kann man das ewige Dilemma der Kunst nicht zeigen.
Nächste Vorstellungen bei Tanz Köln: „Noise Signal Silence“ von Richard Siegal am 21./22.12.2023 im Depot 1 und Sofia Nappi „Pupo“ am 13./14. Januar 2024 im Depot 2