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So war der „Tatort“Warum lebe ich, wenn ich seit 35 Jahren tot bin?

Lesezeit 5 Minuten
Die Kommissarinnen Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) und Karin Gorniak (Karin Hanczewski) versuchen eine Tat zu verhindern.

Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) und Karin Gorniak (Karin Hanczewski) 

Kann man sich unbemerkt die Identität eines Anderen klauen? Diese Frage stellen sich die Dresdner Ermittler im hoch spannenden Finale des Tatorts „Kaltes Herz“.

„Tun wir das nicht alle? Andere für unser Leben verantwortlich machen?“, gibt Peter Schnabel in einer Anwandlung von Tiefgründigkeit seinen Kolleginnen zu bedenken. Als Sonja Heuer bemerkt, dass dieses nicht ganz so rosige Leben, in dem sie seit 35 Jahren steckt, das Falsche war, will sie alle, die daran schuld sind, tot sehen.

Dass der Tatort „Totes Herz“ ihre Geschichte erzählt, wird den Zuschauern aber erst im letzten Drittel klar, deshalb lieber mal von vorn: Das Dresdner Ermittlerteam wird in eine Gärtnerei gerufen, die Chefin Heike Teichmann liegt erschlagen im Gewächshaus, der vermeintliche Täter, der Gärtnereihelfer Juri Nowak, ein junger Mann mit einer geistigen Behinderung, ist seit der Tat flüchtig. Zwar ohne erkennbares Motiv, aber mit Fingerabdrücken auf der Tatwaffe gerät er ins Visier der Ermittlungen.

Das Ermittlerteam

Peter Schnabel (Martin Brambach) ist sich da nicht so sicher, es könne sich doch auch um eine Täterin handeln, „Crime has no gender“ erklärt er seinen Kolleginnen in sächsischem Englisch - sichtlich bemüht, bei diesen mit smarten Sprüchen aufzutrumpfen. „Wäre eine willkommene Abwechslung“, erwidert Karin Gorniak (Karin Hanczewski). 85 Prozent der Morde in Deutschland werden von Männern begangen.

Der Fall

Die Geschichte von Juri Nowak, dessen Schwester Swetlana (Lara Feith) sich aufopferungsvoll um ihn kümmert und für ihn die Hand ins Feuer legt, zieht von Anfang an nicht wirklich und macht den „Tatort“ stellenweise unnötig zäh. Während die Hundestaffeln nach dem Tatverdächtigen suchen, wird wild gemutmaßt, was Juri Nowak, der sich selbst nicht äußert, wohl im Gewächshaus gesehen oder getan haben will. Das Ermittlerteam konzentriert sich derweil schon einmal auf die wesentlich interessantere Familie Teichmann.

Bei Teichmanns steht noch der Glühwein in der Küche und die kleine Tochter wird mit „Schneeflöckchen Weißröckchen“ in den Schlaf gesungen. Aber von weihnachtlicher Harmonie und Wärme scheint hier wenig übrig zu sein, schon vor dem Tod der „Mutti“ Heike lag einiges im Argen. Nadine Teichmann, die Tochter der Toten, steckt mit ihrem Mann Patrick in einer mittelschweren Ehekrise. Der liebevolle Vater Patrick leidet unter der Entfremdung zu seiner Frau („Nadine ist eiskalt geworden“), und die traut ihm offenbar sogar den Mord an ihrer Mutter zu.

Die gequälten Blicke der beiden sind an einigen Stellen kaum zu ertragen. Dass sie es über Tage hinweg nicht übers Herz bringen, ihrer Tochter vom Tod der Oma zu erzählen, passt ins Bild. Das Drama einer Familie im Schockzustand wird feinfühlig erzählt, die Darstellung eines Paars, das etwas unbeholfen ihre Ehe zu retten versucht und beim gemeinsamen „Für Elise“-Spielen am Klavier wieder zueinanderfindet, überzeugt. An manchen Stellen in ihrer Holzschnittartigkeit irritierende Seifenopernsätze von Nadine („Lass uns vergessen, was war. Anna braucht uns jetzt und ich brauch' dich“) ergeben im Nachhinein Sinn, wenn man weiß, wer hier welches Spiel spielt.

Die Wendung

Ab der Hälfte nimmt der „Tatort“ nochmal Fahrt auf. Während die Kommissarinnen mit ihren Befragungen zur Affäre von Patrick Teichmann zunehmend im Dunkeln tappen, kommt Peter Schnabel einer anderen Geschichte auf die Spur. Heike Teichmann erlebt kurz vor ihrem Tod ihr blaues Wunder, als sie auf der gleichnamigen Dresdener Brücke ihre Tochter entdeckt, die zeitgleich zu Hause in der Gärtnerei arbeitet.

Die Frau auf der Brücke, Sonja Heuer, ist die totgeglaubte Zwillingsschwester ihrer Tochter Nadine. Dr. Erwin Stirn (Lutz Blochberger) hatte das Baby der jungen, alleinstehenden Mutter nach der Geburt eigenmächtig für tot erklärt, in Wirklichkeit aber einer wohlhabenden Familie mit unerfülltem Kinderwunsch übergeben. Die Hybris, mit der er sich – mit den Vorwürfen konfrontiert – rechtfertigt, wirkt fast etwas dick aufgetragen. Der Arzt, der nach Schnabels Ermittlungen sogar wiederholt Schicksal spielte und glaubte, „die beste Lösung für alle“ zu finden, zeigt gegenüber Sonja Heuer keine Reue: „Ein wenig Dankbarkeit könnten Sie schon zeigen“, fällt ihm da nur ein, schließlich sei sie bei „privilegierten, studierten Adoptiveltern“ aufgewachsen. Damit wäre ein Täter der Geschichte schon mal männlich.

Die Auflösung

Mit Sonja Heuer betritt im letzten Teil des „Tatorts“ nochmal eine neue Protagonistin die Bühne. Konfrontiert mit ihrem Schicksal, fasst die 35-Jährige mit längerem Vorstrafenregister einen rachsüchtigen Plan. Sie tötet, um sich ein Leben zurückzuholen, das ihr gestohlen wurde. Zuerst ihre leibliche Mutter, dann ihre Zwillingsschwester, dann den verantwortlichen Arzt. Und sie tötet, als sie – in ihrem „zweiten Leben“ angekommen – fürchtet, dass ihr auch dieses genommen werden könnte. Die Rückblenden aus Sicht der Mörderin in den letzten Sekunden des Films, die ihre ganze Mordserie offenbaren, hinterlassen auf jeden Fall einen leichten Schauer auf dem Rücken.

Fazit

Ein eiskalter Rachefeldzug, ein Identitätsdiebstahl, eine Prise dunkle Vergangenheit und vier kaltblütige Morde über die 90 Minuten verteilt, ergeben in Summe einen hoch spannenden „Tatort“-Abend. Besonders die letzten 15 Minuten haben es in sich. Sobald die Zuschauer – aber eben auch nur sie – wissen, dass es nicht Nadine Teichmann, sondern Sonja Heuer ist, die da neben Patrick Teichmann im Bett liegt, wird die Story in Sekundenschnelle zum Psychothriller.

Kleine logische Ungereimtheiten, zum Beispiel wie Sonja Heuer sich so leicht im Leben ihrer unbekannten Schwester zurechtfinden konnte, lassen sich zugunsten dieser letzten Viertelstunde verschmerzen. Kristin Suckows eindringliches, vielschichtiges und vielgesichtiges Spiel der Zwillingsschwestern hält den Zuschauer bis zur letzten Minute in Atem.

Die offensichtliche Finte um Juri Nowak als Tatverdächtigen verkommt nach einer Weile zu einem etwas lieblos erzählten Nebenstrang. Die Zusammenarbeit der beiden Ermittlerinnen Gorniak und Winkler (Karin Hanczewski und Cornelia Gröschel) bleibt abgesehen von einigen vielsagenden Blicken im Verhörgespräch relativ blass. Abgesehen davon ist Andreas Herzog (Regie) nach dem Drehbuch von Kristin Derfler ein spannender „Tatort“ gelungen.