Triebtäter-Texte und PopoklatschePeinlicher Abend mit Skandalsänger Lindemann in Köln
- Der Rammstein-Frontmann scheint die Inspiration für sein Solo-Projekt vorwiegend bei den Top-Ten-Suchbegriffen einer Porno-Streaming-Seite gefunden zu haben.
- Auf der Bühne macht sich aber niemand nackig, der Jugendfilter gilt allein den ach so provokanten Einspielfilmen.
- Da baden adipöse Frauen in Fett und Pillen ploppen aus Polöchern. Unseren Konzertkritiker bringt das ins Grübeln: Stimmt eigentlich etwas nicht mit ihm, wenn er Ibuprofen-Zäpfchen für fiebernde Kleinkinder assoziiere?
- Und die Musik zur Schau? Naja. Lesen Sie hier die ganze Konzertkritik.
Köln – Till Lindemann schießt rohen Fisch ins Publikum. In Filethälften, oder auch ganz, flitzen sie aus einer Art Raketenwerfer. Da er des Nachts gerne Damen angeln geht, röhrt er dazu: „Ich werfe meinen Wurm in den Teich.“
Ausnahmsweise auf Englisch, aber das macht es nicht besser. Trägt Lindemann bei Auftritten mit seiner Hauptband Rammstein gerne mal Metzgerschürze, hat er sich jetzt eine Art Regenponcho übergeworfen. Soll ja nichts auf den weißen Anzug kommen, den Lindemann zum weiß geschminkten Gesicht und den ebenso weißen Haaren trägt, die ihm in Boris-Johnson-Manier vom Schädel abstehen. Die Fische fliegen derweil hoch über den Köpfen des Publikums im ausverkauften Palladium, manche sogar unter großem Hallo bis hinauf zur Galerie, wie entglittene Metaphern. Oder wie eine Metapher für entglittenen Metaphern.
Spätexpressionistische Gaga-Lyrik
Als Sänger und Texter von Rammstein hat Till Lindemann 25 Jahre lang sehr erfolgreich „Bild“-Schlagzeilen zu spätexpressionistischer Gaga-Lyrik veredelt. Für sein schlicht „Lindemann“ benamstes Projekt mit dem schwedischen Metal-Multiinstrumentalisten Peter Tägtgren (hauptberuflich musikalischer Kopf der Death-Metal-Band Hypocrisy und der Industrial-Rocker Pain) scheint er seine Inspiration vorwiegend bei den Top-Ten-Suchbegriffen einer Porno-Streaming-Seite gefunden zu haben: „Ladyboy“, „Gummi“, „Golden Shower“, „Knebel“, oder auch schlicht „Platz Eins“. Die Kölner Show ist dementsprechend als „ab 18“ deklariert.
Auf der Bühne macht sich aber leider niemand nackig, der Jugendfilter gilt allein den ach so provokanten Einspielfilmen. In denen werden glühende Zigarettenenden auf Eicheln ausgedrückt, baden unbekleidete, adipöse Frauen in Fettmasse, flattern lange, gepiercte Schamlippen wie Beyoncés Perücken im Ventilatorwind. Sind das eigentlich Dinge, die man sich gemeinsam mit 1000 tätowierten Männern angucken will? Und stimmt etwas nicht mit mir, wenn ich zu bunten Pillen, die aus Polöchern ploppen, Ibuprofen-Zäpfchen für fiebernde Kleinkinder assoziiere?
Die Musik zur Schau: naja. Synthie-Pop, der mit tiefer gestimmtem Gitarren Härte vorschützt, Indie-Rock aus der Dorfjugend des Duos, Graf-Zahl-Georgel. Es gibt auch lichte Momente. Zum Beispiel die Blow-Job-Fantasie „Knebel“, die sich zuerst als Lagerfeuer-kompatible Volker-Lechtenbrink-Variation tarnt: „Ich mag die Sonne, die Palmen und das Meer/ Ich mag den Himmel schauen, den Wolken hinterher/ Ich mag den kalten Mond, wenn er voll und rund/ Und ich mag dich mit einem Knebel in dem Mund“.
Oder das hochenergetische „Steh auf“, dessen Text zuerst an schlimme Motivationstrainings-Lyrik gemahnt, wie sie Mick Jagger in den 1980er Jahren gesungen hat — bis man versteht, dass es sich um die verzweifelten Bitten eines Kindes handelt, dessen Mutter gerade überdosiert hat.
Überhaupt kommen die neuen, deutsch gesungenen Songs des zweiten Albums „F & M“ in Köln durchweg besser an, auf Englisch überschreitet Till Lindemann die Grenze zur Selbstparodie schon durch das sprachliche Unvermögen. Oder wirkt, noch schlimmer, völlig generisch und damit austauschbar. Anfangs wohnen die Zuschauer diesem doch eher Petit als Grand Guignol denn auch dermaßen stoisch bei, als seien sie vor allem hier, weil sie leider keine Karten für die Rammstein-Tour bekommen haben. Wenn sich Lindemann und der Keytar spielende Tägtgren in einer Plexiglas-Kugel durch die Masse schieben lassen, denkt man unweigerlich an Rammsteins beeindruckendere Gummiboot-Ausflüge über den Köpfen der Stadion-Besucher.
Erst bei „Allesfresser“ wachen die Fans langsam auf. „Frische Tierchen, manchmal Kuchen/ Dürfen meinen Mund besuchen“, dichtet Lindemann, dieses oralfixierte Krümelmonster der Neuen Deutschen Härte. Die Band wirft dazu Torten ins Publikum. Im Ernst, der einzige Popstar, der noch häufiger über den Verzehr von Lebensmittel singt, ist der Hit-Parodist Weird Al Yankovic: „My Bologna“, „Eat It“, „Lasagna“. Den Titel „Fat“ teilt er sich sogar mit Lindemann.
Der Rammstein-Sänger mag ohne Akkordeon und Minipli-Frisur auftreten, aber er ist trotzdem die größere Witzfigur. Mit seinen kalkulierten Triebtäter-Texten, seiner ganz real vorhandenen Popoklatsch-Manie und seinen beständig ins Kindliche umklappenden Fetisch-Fantasien: „Ich liebe Gummi, Gummi, Gummi“, bekennt er zum Finale des Konzerts: „Gummimenschen, Gummireifen/ Gummi schützt nur meinen Steifen/ Gummimann auf allen Vieren/ Gummimantel, Gummitiere“. Und beinah möchte man ergänzen: „Quietscheentchen, ich hab dich so furchtbar lieb.“