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Triumph der Kunst über den Tod

Lesezeit 5 Minuten

Den allergrößten Teil der letzten 18 Jahre seines Lebens verbrachte Marcel Proust in freiwilliger Isolation. Seine Pariser Wohnungen am Boulevard Haussmann 102 und, am Ende, in der Rue Hamelin 44, verließ er so gut wie nie. Das Schlafzimmer hatte er mit schallschluckendem Kork auskleiden lassen. Damals, in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, galt der Autor als Exzentriker. Unter den Bedingungen, die uns die aktuelle Pandemie aufzwingt, wäre Proust der ideale Staatsbürger.

Er schlief, kaum dass die Sonne sich zeigte, und wachte erst gegen Abend auf. Blieb aber im Bett und schrieb, unbequem auf einen Ellenbogen gestützt, von Asthmaanfällen und Todesahnungen geschüttelt, im Liegen.

Nebenbei war Proust nicht der einzige Autor, der vorzugsweise horizontal schrieb, auch Mark Twain, Edith Warton und Truman Capote arbeiteten gerne im Bett; von James Joyce ist sogar überliefert, dass er „Ulysses“ und „Finnegans Wake“ auf dem Bauch liegend verfasste.

Seinen ersten Asthmaanfall hatte Marcel Proust im Alter von zehn Jahren erleben müssen, bei einem Spaziergang im Bois de Boulogne. Walter Benjamin, einer der ersten Fürsprecher Prousts in Deutschland, glaubte sogar, dass dessen Kurzatmigkeit der stilbildende Faktor seiner Kunst gewesen sei. „Seine Syntax“, behauptete Benjamin, „bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Erstickungsangst nach.“ Was zuerst widersinnig erscheint, bedenkt man die seitenfressende Länge der Proust’schen Sätze. Und dann absolut zutreffend, stellt man sich jedes Komma als Atemzug eines Ertrinkenden vor.

Für den Rest seines Lebens hatte Proust mit der Kurzatmigkeit zu kämpfen, bis er im November 1922 mit 51 Jahren schließlich an einer Lungenentzündung starb. Bis sich sein gesamtes Leben in Schrift verwandelt hatte. „Das wahre Leben, das einzige von uns wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur“, so hat er es in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ formuliert – im französischen Original „A la recherche du temps perdu“ – seinem über 4000 Seiten langen Großwerk, das in viertausend und einer Nacht zwischen den Bettlaken entstanden ist.

Es gibt wirklich keine bessere Zeit, sich an die Lektüre der „Recherche“ zu wagen, als diese, da wir selbst ans Haus gebunden sind und Begegnungen, Feste und Reisen nur noch als Erinnerungen existieren. Diese Zeit, in der das wahre Leben nun wirklich eher zwischen Buchseiten stattfindet als im öffentlichen Raum. Eher in der vergangenen als in der just vergehenden Zeit.

Berühmt geworden ist der erste Satz, mit dem Prousts namenloser Erzähler zur großen Suche ansetzt: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ „ZEIT“, in Großschreibung, lautet auch das letzte Wort im letzten Satz des Romans. In welchem der prokrastinierende Erzähler endlich zum Schreiben ansetzt und seine Absicht erklärt, in seinem Werk die Menschen „als Wesen zu beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz einnehmen in der Zeit“. In der Zeit, schreibt Proust, sind wir alle Riesen, die weit auseinanderliegende Epochen streifen.

Die „Recherche“ schichtet Endlossätze zu hohen Säulen, spannt aus flüchtigen Erinnerungen weite Bögen, baut aus der nur scheinbar verlorenen Zeit eine gotische Kathedrale. Ein statisches Wunderwerk, in dem jede verborgene Ecke des menschlichen Erinnerungsvermögens hell ausgeleuchtet wird. Ein Triumph der Kunst über die Zeit und damit über den Tod.

Angeblich hat Proust nie Sigmund Freud gelesen, was vielleicht eher ein Fall von Einflussangst als von Ignoranz war. Sind es für Freud Träume und „Fehlleistungen“ – Versprecher, Verhörer, verlegte Gegenstände –, die das Tor zum Unbewussten öffnen, so ist es bei Proust ein Stück Feingebäck, die berühmte Madeleine, welches, in Lindenblütentee getaucht, die Schleusen öffnet zu den Erlebnissen, Gerüchen und Farben der Kindheit. Die sogenannte unwillkürliche Erinnerung, unverfälscht vom Überbau aus Absichten und Interpretationen.

Dieses Sich-Erinnern ist die eigentliche Handlung des Romans. Nicht, dass nicht auch Dinge geschehen würden. Man kann hier mehr von der französischen Gesellschaft des Fin de Siècle, von ihren Salons, Gewohnheiten und Obsessionen erfahren als irgendwo sonst. Mehr auch über den Bruch, den die Dreyfus-Affäre für diese Gesellschaft bedeutete. Es werden bittersüße, herrschsüchtige und unerfüllte Affären beschrieben. Und es gibt mit „Eine Liebe von Swann“ einen Mini-Roman im Roman, der sich als süchtig machender Einstieg empfiehlt, bevor man sich endgültig im Irrgarten der „Recherche“ verliert. Dazu unvergessliche Charaktere wie die gütige Großmutter des Erzählers oder Albertine, die Geliebte, die so flüchtig ist wie die Zeit; allen voran jedoch der hochnäsige, dekadente und mannstolle Baron de Charlus. Es gibt im Übrigen auch eine Folge von Monty Python’s Flying Circus mit dem Titel „Der gesamtenglische Fasse-Proust-zusammen-Wettbewerb“, weshalb wir weitere Versuche an dieser Stelle unterlassen werden.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist eine Gegenwelt, so unermesslich groß und reichhaltig wie keine Zweite in der Literatur. Und sie residiert an einem einzigen Ort, dem Gedächtnis des Erzählers, das im Lauf der Lektüre zum Gedächtnis seines Lesers wird. War Proust der Erste (oder wenigstens, nach Freud, der Zweite), der durchleuchtet hat, was verborgen unter unseren Schädeln liegt, verschüttet von der Zeit? Oder hat er mit der „Recherche“ erst unser modernes, vielfach prismatisch gebrochenes Ich erschaffen? Jedenfalls ist dieser Kosmos aus der Isolation entstanden, zwischen den Laken, unter Korkwänden. Und er kann in jedem von uns wiedererstehen, gerade in der Quarantäne, unter Kontaktverbot. Ein Wunderreich, nur ein Stück Sandgebäck entfernt.

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Foto: Getty Images

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