Überraschungs-AlbumWie schlimm Corona AnnenMayKantereit zugesetzt hat
- AnnenMayKantereit haben über Nacht ihr drittes Album mit dem Titel „12“ veröffentlicht.
- Auf dem hadert die Kölner Band schonungslos ehrlich mit den Folgen der Corona-Krise.
- Will man das hören?
Köln – „Würdest du heute mit mir ausgehen?“, fragte Henning May noch im vergangenen Februar im Refrain einer neuen AnnenMayKantereit-Single. Im Selfie-Video zum Song kniff May charmant ein Auge zu und Christopher Annens Gitarre schlug dazu einen Rhythmus der Marke locker-flockig. Die Welt war okay. Und dann war sie es plötzlich nicht mehr und es war Schluss mit Ausgehen. Und mit Touren. Und mit allem anderen, was einmal selbstverständlich war.
Ohne weitere Vorankündigung haben AnnenMayKantereit am Dienstag ihr drittes Album veröffentlicht. Es trägt den schlichten Titel „12“ und warum es den trägt, erfährt man gleich im Intro: „Auf der Menschen Uhr schlägt eine neue Zeit: 12“, konstatiert Henning May da lapidar und vielleicht zum ersten Mal deckt sich seine frühverlebte Grabesstimme mit dem, was er da singt.
Früher konnte man mit dem Trio aus Köln-Sülz seine morgendliche Katerstimmung veredeln, wenn die WG-Küche mal wieder so versifft war, dass man nicht wusste, wo anfangen und man mit der falschen Partygästin geschlafen hatte. Jetzt aber, jetzt ist es ernst. Vor allem in der ersten Hälfte von „12“ herrscht nachtkalte Depression.
„So wie es war, so wird es nie wieder sein“, stellt May im darauffolgenden A-Capella-Stück fest. Und singt im nächsten, mit etwas mehr Emphase: „Die Kneipen schließen, die Kinos auch und im Schauspielhaus fällt der letzte Vorhang aus.“ Und er müsse sich zwingen, mal ein paar Stunden keine Nachrichten zu lesen.
Das Lied heißt „Gegenwart“, das danach „Gegenwartsbewältigung“: „Ich hab keine Hoffnung zu verkaufen“, singt May zum säuselnden Säuferchor, „nur Gegenwartsbewältigung.“
Dann: „Zukunft“ und „Vergangenheit“. Von 16 Tracks erreichen nur vier die Dreiminutengrenze. Den anderen ist auf dem Weg dahin die Luft ausgegangen. Aber was da zischt und rauscht müssen alte Magnettonbänder sein. Als wäre „12“ kein reguläres Album, sondern ein Bootleg, das von Hand zu Hand gereicht wird. Die „Basement Tapes“ von AnnenMayKantereit.
„Fühlt sich an, als wäre ich gestern 17 gewesen. Wie schnell kann man leben?“, singt May zu wehmütigen Gitarren. Man sei zu schnell seinem Traum nachgerannt. Doch „der Traum ist immer nur geliehen“. Jetzt wird zurückgezahlt.
Goodbye Festival, Palladium, Stadion, hello Zimmer. Aber „Spätsommerregen“, klingt das nicht wie ein guter, alter AnnenMayKantereit-Titel? „Ich gehe manchmal spazieren“, erzählt May und schließt nach einer Kunstpause an: „von der Küche in den Flur/ und ich genieße die Natur“ – erneute Kunstpause – „im Innenhof“. Dann nimmt der vertrackte Rhythmus doch noch popwackelnde Fahrt auf: „Es ist okay“, beschwichtigt May und klingt nun wirklich alles andere als okay.
Selbst in einem so sanft-fernsüchtigen Song wie „Warte auf mich (Padaschdi)“ erscheint der Horizont leer und das Meer ist verschwunden. Das größte noch zu habende Glück fasst die Band in „Aufgeregt“, wo sich Freunde, Familie, frisch Verliebte nach „70 Tagen“ (im Lockdown) endlich wieder sehen dürfen, zum gemeinsamen Spaziergang: „Sie ist Regisseurin, arbeitslos, genau wie er, und beide freuen sich so sehr auf das erste Date.“ „Ausgehen“, mein Gott, ist das wirklich erst neun Monate her?
„Vielleicht schreibe ich irgendwann über den Weltuntergang“, fragt sich May im vorletzten Lied, das er „Die letzte Ballade“ genannt hat. Aber das hat er ja gerade getan.
Überraschung ohne Schokoladenei
„12“ ist eine Überraschung, aber ohne Schokoladenei drumherum. Einige Wenige, die nicht in der Menge stehen und „Pocahontas“ mitgrölen wollten, haben AnnenMayKantereit in der Vergangenheit ihre gekünstelte Kunstlosigkeit vorgeworfen, ihr Es-ist-so-wie-es-ist. Aber jetzt, wo nichts mehr ist, wie es ist und nichts mehr sein wird, wie es war, sind es die Kölner, die sich trauen, uns die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.
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