Der Holodomor war eine wissentlich herbeigeführte Hungersnot, die Millionen von Menschen das Leben kostete. Futur3 erinnert mit dem Schauspiel Köln an die Ukraine der 1930er.
Ukraine-Gedenken auf der BühneMillionen Hungertote wegen Stalins Politik
Der Großvater erzählte, dass die Kinder im Sommer in der Nähe ihres Dorfes in der Ukraine Fußball spielten. Die Tore markierten sie mit Stöcken. Wenn sie im nächsten Jahr wiederkamen, waren die Stöcke nicht mehr zu finden. Sie waren bereits zugewachsen. So fruchtbar ist die schwarze Erde in der Ukraine.
Der ukrainische Schauspieler Olesksii Dorychevskyi erzählt diese Kindheitserinnerung an diesem Abend auf der Bühne des Schauspiels Köln, an dem an eine der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts erinnert wird. Dass sich in den Jahren 1932/33 der „Holodomor“ (Mord durch Hunger) mitten in der Kornkammer der Ukraine ereignet hat, ist kaum zu begreifen. Wohl gab es Anfang der 1930er Jahre eine Dürreperiode in der Sowjetunion, doch der Hungertod von mehreren Millionen Menschen hatte vornehmlich politische Gründe. Er war Folge der systematischen Zerstörung der Strukturen in der dortigen Landwirtschaft, die damals in großen Teilen von Kleinbauern betrieben wurde.
Der Holodomor wurde erst in den 1990ern aufgearbeitet
Stalin wollte die damals agrarisch geprägte Sowjetunion mit Hochdruck in eine Industrienation verwandeln. Durch Zwangskollektivierung sollten die Ernteerträge gesteigert und die Macht der in den Städten starken bolschewistischen Regierung in den ländlichen Regionen gefestigt werden. Welche systematischen Verbrechen damals an den Bauern der Ukraine verübt worden waren, kam erst weitestgehend in den 1990er Jahren zum Vorschein, als erste Archive in Russland geöffnet wurden und eine historische Forschung zum „Holodomor“ möglich wurde.
In der heutigen Ukraine ist das Gedenken an den Mord durch Hunger fester Bestandteil des Selbstverständnisses der jungen Nation. Bei uns in Deutschland ist der „Holodomor“ allerdings nur wenigen bekannt. Licht ins Dunkel dieser historischen Katastrophe zu bringen ist das Anliegen der Kölner Theatergruppe Futur3, die in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und dem Orangerie Theater Köln mit „Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ ein theatrales Panoramabild kreierten.
Erdfarbene Leinwände auf der Bühne
Im Theater, in dem drei große erdfarbene Leinwände aus kernigem Bühnenbodenstoff wie ein Triptychon im Hintergrund aufgehängt sind, treten sechs Schauspieler und Sänger auf. Viele von ihnen haben biografische Wurzeln in der Ukraine oder leben noch dort. So beginnt der Abend mit autobiografischen Berichten darüber, wann jeder der Künstler zum ersten Mal vom „Holodomor“ erfahren hat. Wurde es der Musikerin Mariana Sadovska noch in der damaligen UdSSR von Verwandten unter dem Mantel der Verschwiegenheit erzählt, so gehörte es für ihre jüngere Kollegin Yasia Yenko zum in der Schule vermittelten nationalen Erbe der Ukraine.
Dass seine Berichte über die Abermillionen Hungertoten von Bekannten im Westen nur mit ungläubigem Staunen und Zweifeln quittiert wurden, berichtet Stefko Hanushevsky, der hier erlebte, wie ein altes Narrativ aus sowjetischer Zeit, das den „Holodomor“ negiert, noch immer auch bei uns in Deutschland verfängt.
„Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ nutzt Aussagen von Zeitzeugen
Die Geschichten von vier Zeitzeugen lassen André Erlen und Stefan H. Kraft, die beiden künstlerischen Leiter des Abends, im Wort und Spiel der Akteure lebendig werden. Da ist der junge walisische Reporter Gareth Jones, der damals heimlich die ukrainischen Dörfer bereiste. Bei seiner Rückkehr 1933 stemmte er sich vehement, aber vergeblich dagegen, dass in den westlichen Medien die offizielle Bezeichnung der Propaganda Stalins von der „Lebensmittelknappheit“ aufgegriffen wurde, statt von einer Hungersnot zu sprechen.
Wie gnadenlos Stalins Schergen den Bauern, die in Moskau unter Generalverdacht der Sabotage standen, ihr letztes Saatgut und Getreide abnahmen, zeigt eine szenische Erinnerung aus dem Leben des jungen Lew Kopelew. Der nahm als in Kiew geborener Kommunist an den Strafexpeditionen gegen die Landbevölkerung teil. Kein Mitleid mit den Menschen, die durch die Raubzüge zum Hungertod verurteilt waren, hatte auch der junge Moskauer Funktionär Stepan Podlubny. Als Sohn eines nach stalinistischer Lesart wohlhabenden Bauern aus der Ukraine, verschweigt er seine bäuerliche Herkunft, um in der sowjetischen Gesellschaft aufzusteigen. Sein heimlich angefertigtes „Tagebuch aus Moskau“ zeugt von erschütterndem Selbsthass auf die eigene väterliche Herkunft.
Eindringlicher Elektro-Sound
Eingerahmt werden die gesprochenen und gespielten Geschichten vom eindringlichen, live eingespielten Elektro-Sound des Musikers und Klangkünstlers Jörg Ritzenhoff, der gemeinsam mit Mariana Sadovska dafür sorgt, dass der gut 90-minütige Abend im Rhythmus moderner Klänge und traditioneller ukrainischer Musik daherkommt.
Den Brückenschlag zwischen historischen Bildern aus der damaligen Ukraine und dem Bühnengeschehen vollzieht auch der Videokünstler Valerij Lisac, der mit einer Live-Kamera immer wieder mit auf die Leinwand projizierten Standbildern eindrucksvolle visuelle Akzente setzt.
Mittendrin die Aufnahmen eines Bauern aus dem Jahre 2022, dessen Felder beschossen werden, während er in die Kamera spricht. Dass Moskau wieder Weizen als Waffe einsetzt, ist ein bitteres Déjà-vu für die Ukrainer aber auch ein zusätzlicher Ansporn, das Verbrechen des „Holodomor“ nicht zu vergessen.
Nächste Termine: 26. 11., 20 Uhr, Depot 2 und 23.–26. 2. 2023 im Orangerie-Theater