Im WDR-Sendesaal setzten sich die Komponistin und das Kölner Ensemble mit der mittelalterlichen Kabbala auseinander.
UraufführungKölner Ensemble Musikfabrik entführt mit Sarah Nemtsov in jüdische Mystik
Die E-Geige belebt einen liegenden Ton durch Vibrato und Nebentöne. Nach und nach treten weitere Instrumente hinzu und verbreiten die schmale Anfangslinie als dunkle Klangfläche im WDR-Sendesaal. Da alle über Lautsprecher verstärkt werden, wirken die Klänge von ihren materiellen Quellen getrennt und wie entkörperlicht. Zusammen mit Synthesizer-Sounds entsteht so eine unfassliche Zwischenwelt. Willkommen in der Mystik der jüdischen Kabbala!
Im 89. Konzert seiner Reihe im WDR brachte das Ensemble Musikfabrik unter Friederike Scheunchens ebenso präziser wie souveräner Leitung den dreiteiligen Zyklus „Ma'alot“ von Sarah Nemtsov zur Uraufführung. Die 1980 geborene Komponistin stammt aus einer jüdischen Familie und setzt sich mit Motiven des mystischen Lebensbaums aus der mittelalterlichen jüdischen Kabbala auseinander. Das erste Stück „Chesed“ gilt bedingungsloser Liebe, Güte und Barmherzigkeit. Nach lautstarker Verdichtung schwebt die Musik mit gläsernem Klirren und der von Paul Jeukendrup gesteuerten Elektronik wie durch himmlische Ewigkeitsgefilde, bevor sich das instrumentale Leben am Ende zaghaft wieder zurückmeldet und eine neue Erdung erfährt.
Dem Ensembleteil rechts auf der Bühne antworten im zweiten Stück „Keter“ auf der linken Bühnenhälfte Streichtrio, Bassklarinette, Harfe und Klavier. Vor allem die Saiteninstrumente stehen symbolisch für die Krone des Lebensbaums, dem höchsten und nächsten Punkt zum Göttlichen. Die Programmatik weckt Erwartungen auf entstofflichten reinen Geist, himmlisch, numinos, majestätisch. Doch die Musikerinnen und Musiker agieren handfest und körperbetont, mit druckvollen Bogenstrichen und wuchtigen Klavieranschlägen. Und die Energie steigert sich weiter zu heftig stampfenden Akkorden. Einzig im Mittelteil gibt es wie von Geisterhand weiter klingende Harfentöne, die dann jedoch ihrerseits zu knallenden Akzenten zerplatzen.
Die formale Anlage des Zyklus folgt der Addition der beiden konträr besetzten Teilensembles der ersten zwei Sätze zum Tutti im großen Finale. Die elektronische Verstärkung und Kombination mit Synthesizer offenbarte hier jedoch auch ihre Nachteile. Während leise Passagen durchaus eine Art Transzendenz realer Gegebenheiten assoziieren lassen, wirkten die dynamisch forcierten Dissonanzen, Spaltklängen, Schläge und Cluster des dritten Satzes „Malchut“ dagegen grob und stumpf, gerade weil die Instrumente ihre hochdifferenzierte Körperlichkeit, spieltechnische Nuancierung, individuelle Akustik und Abstrahlcharakteristik verlieren.
Doch schließlich handelt der letzte Satz von der Zerrissenheit der Menschenwelt mit all ihren Kriegen und Katastrophen. Wer wollte angesichts dieses Chaos eitel Harmonie und Schönklang erwarten?