Ronya Othmann dokumentiert mit ihrem Roman „Vierundsiebzig“ den Völkermord an den Jesiden. Sie stellte ihr Buch in Köln vor.
Ronya Othmann im Kölner LiteraturhausWie findet man Worte für einen Völkermord?
Wie findet man Worte für einen Völkermord? Als der IS die nordirakische Stadt Shingal angriff, verloren tausende Jesiden ihr Leben und hunderttausende ihre Heimat. Ronya Othmann hat darüber ein Buch geschrieben, „Vierundsiebzig“. Am Dienstagabend stellte sie es im Kölner Literaturhaus vor.
Die deutsche Autorin hat selbst einen jesidischen Vater. Sie reiste für ihren dokumentarischen Roman in den Irak, sprach mit Verwandten und Ansässigen, sah die Orte der Verwüstung. Die Geschichten der Menschen, die sie in „Vierundsiebzig“ festhält, sind verstörend. Viele erzählen von Verwandten, die vom IS verschleppt und als Sklaven gehalten wurden, die wie Gegenstände verliehen oder getauscht wurden. Ein IS-Kämpfer soll einen Mann enthauptet haben, weil der nicht zum Islam übertreten wollte. Den Kopf drückte er anschließend dem Sohn des Mannes an die Hand.
Ronya Othmann dokumentiert in „Vierundsiebzig“ einen Völkermord
Der Journalist Ulrich Noller, der die Lesung moderierte, sprach von seiner Zurückhaltung, angesichts eines so bedrückenden Themas große Lobeshymnen auf Othmanns Buch anzustimmen. Die hat „Vierundsiebzig“ aber zweifelsohne verdient. Nicht nur die enorme Rechercheleistung beeindruckt, für ihren Roman hat Ronya Othmann zudem eine eigene Poetik der Sprachlosigkeit gefunden.
Dabei beschreibt Othmann ihren Schreibprozess als ein ständiges Scheitern. Auf der Suche nach einer Sprache für das Geschehene hadert sie immer wieder mit der Unzulänglichkeit des Textes. Im Buch heißt es etwa: „Selbst das Aneinanderreihen der Fakten, das Zählen der Toten, selbst das Datum, 3. August 2014, oder 74. Ferman, wie wir Êzîden den Genozid nennen, bleiben ein Platzhalter für etwas, wofür wir keine Worte haben.“
Die Verbrechen der IS an den Jesiden sorgen für Sprachlosigkeit
Also macht sich Ronya Othmann auf die Suche nach der richtigen Sprache, etwa in den Erzählungen der Überlebenden. Sie sucht sie in den Worten des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der schon im 19. Jahrhundert die Gewalt gegen die Jesiden beschrieb. Oder in dem Gerichtsverfahren der deutschen IS-Rückkehrerin Jennifer W. Und sie sucht im Schweigen derjenigen, die den Völkermord bezeugt haben. Sinnbildlich dafür ist etwa eine alte Frau, die sie in einem Camp kennenlernt. Seit der IS in ihr Dorf kam, sprach sie kein Wort mehr und schien auch nicht ansprechbar zu sein. Sie saß teilnahmslos in ihrem Zelt und hielt einen Kieselstein in der Hand. „Die Sprachlosigkeit hat sich in den Körper dieser Frau eingeschrieben“, heißt es in „Vierundsiebzig“.
Zur Poetik der Sprachlosigkeit gehört auch, dass man dem Buch seinen Entstehungsprozess ansieht. Immer wieder taucht ein „Ich schreibe“ oder „ich streiche das durch“ auf. Als würde sie den Text nähen, fügt sie verschiedene Stoffe zusammen, wiederholt Szenen nochmal aus verschiedenen Blickwinkeln. Und nachdem sie wieder gescheitert ist, schreibt sie: „Ich trenne die Nähte wieder auf und fange von vorne an.“
Othmann beschreibt ihr Vorgehen im Kölner Literaturhaus
Wie wichtig aber allein der Versuch ist, begründet Ronya Othmann mit der Beobachtung, dass es vor allem der IS war, der die Geschichte der Ereignisse erzählt hat. Mit seinen Medienabteilungen habe er viel Videomaterial produziert, und diese mediale Vermittlung sei auch Teil des Verbrechens. „Sie hatten Leute, die über das Leben im Kalifat gebloggt haben“, sagt Othmann in der Lesung in Köln. „Es gab Gedichte über das Töten von Ungläubigen.“ Selbst Hinrichtungen habe der IS geprobt, bevor er sie durchführte.
Diesem Ausstellen von Gewalt wolle sie ästhetisch etwas entgegensetzen. Die Erzählungen der Überlebenden brechen ebenso wie ihr Schweigen mit der Propaganda des IS. In diesem Sinne ist „Vierundsiebzig“ mehr als ein Roman. Es ist ein Dokument, das der Archäologie nahe ist, und legt im Grabungsprozess die Sprache des Völkermords frei. So auch Othmanns Beschreibung des irakischen Dorfes Siba Sheikh Khidir, wo sie die Einschusslöcher in den Mauern bezeugt, achtlos in den Staub geworfene Plastikflaschen und Tiger-Energy-Dosen. In die Häuser soll sie wegen der Minen nicht hineingehen, aber sie sieht Sandsäcke auf deren Dächern. Eine Begleiterin, Mam Ibrahim, berichtet ihr: „Sechstausend Familien haben hier gelebt“. Noch nie, schreibt Othmann, habe sie so einen stillen Ort gesehen.
„Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann. Rowohlt, 512 Seiten, 26 Euro.