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Viren in Buch und FilmLektüre für und über die Quarantäne

Lesezeit 4 Minuten

Jude Law als Verschwörungstheoretiker Alan Krumwiede in „Contagion“ (2011)

  1. Steven Soderberghs Thrller „Contagion“ gehört seit dem Ausbruch des Coronavirus zu den meistgestreamten Filmen.
  2. Aber schon seit Giovanni Boccaccios „Il Decamerone“ erzählen Autoren und Filmemacher von Pandemien.
  3. Ein kleiner Überblick über virale Geschichten und was wir von ihnen lernen können.

Köln – Zunächst einmal ist so ein Virus ein wunderbares Mittel, einen Querschnitt der Gesellschaft zu zeigen, verbreitet es sich doch exponentiell von Jung zu Alt, von Arm zu Reich, von Menschen, die in zwölfter Generation im selben Dorf wohnen, bis zu solchen, die sich gerade erst aus einer anderen lebensbedrohlichen Situation ins Land geflüchtet haben.

Narrativ verhält sich das Virus also wie ein Inspektor mit wachsendem Einsatzgebiet. Dessen Reiz für Krimiautoren ja auch darin besteht, dass man mit seiner Hilfe in den Wohnungen aller Schichten Eintritt findet. Sprechen wir von einer Pandemie, also einer länderübergreifenden Seuche, eröffnen infektiöse organische Strukturen wie das Coronavirus sogar die erzählerische Chance, die Menschheit in ihrer Gesamtheit darzustellen. Beziehungsweise diese, ob der lebensbedrohlichen Situation, auf den Prüfstand zu stellen.

Weshalb es nicht verwundert, dass es Hunderte von Romanen und Filmen gibt, welche die Folgen einer Virus-Epidemie behandeln, von Giovanni Boccaccios „Il Decamerone“ (Pest) aus dem 14. Jahrhundert bis zu Max Brooks „World War Z“ (Zombies, seit jeher die Manifestation von Ansteckungsängsten) aus dem Jahr 2011. Viren sind die Detektive der Globalisierung.

Was man sehr deutlich in Steven Soderberghs „Contagion“ („Ansteckung“) sehen kann: Trotz des Star-Ensembles – Matt Damon, Kate Winslet, Jude Law, Gwyneth Paltrow – ersetzen hier halbvolle Gläser, Haltestangen in Bussen und ungewaschene Hände jene Seifenoper-artigen Handlungsabläufe, mit denen ältere Katastrophenfilme ihren Zuschauern den menschlichen Faktor von Erdbeben, Großbränden oder Flugzeugunglücken nahebrachten. Der neun Jahre alte Pandemie-Thriller gehört seit dem Ausbruch des Coronavirus zu den weltweit meistgestreamten Filmen, ist sozusagen viral gegangen. Soderbergh erzählt anhand des Ausbruches eines fiktiven Virus vom höchst fragilen Zusammenhalt der vernetzen Welt, davon, wie vergleichsweise wenig nötig ist, um eine scheinbar funktionierende Gesellschaftsordnung ins Chaos einer Massenhysterie zu kippen.

Dass „Contagion“ heute prophetisch wirkt, liegt schlicht daran, dass Soderbergh und sein Drehbuchautor Scott Z. Burns ihr Material im Streben nach größtmöglicher Realitätsnähe sorgfältig recherchiert hatten, noch dazu gab ihnen der Ausbruch der Schweinegrippe im Jahr 2009 kurz vor den Dreharbeiten ein Live-Anschauungsobjekt an die Hand.

Als wahrhaft hellsichtig hat sich jedoch die von Jude Law gespielte Figur eines Verschwörungstheoretikers erwiesen, der über seine Webseite Panik, Paranoia und fatale Fehlinformationen verbreitet, die sich viel schneller vervielfältigen als das eigentliche Virus. Wie gefährlich das Gift des Irrationalismus ist, das von rechtsradikalen Fake-News-Produzenten wie Alex Jones oder QAnon produziert und über die sozialen Medien gestreut wird, hatte „Contagion“ bereits 2011 verstanden.

Dass verunsicherte Menschen „allen möglichen Hochstaplern und Quacksalbern“ aufsitzen, hatte schon Daniel Defoe in seinem 1722 erschienenen Roman „Die Pest zu London“ berichtet – nur dass der von diesen verursachte Schaden damals noch lokal begrenzt war. Sein „A Journal of the Plague Year“, so der Originaltitel, ist ein direkter Vorläufer von „Contagion“: Defoe stützt sich auf Berichte und Aussagen von Augenzeugen des Pestjahres 1665, diskutiert deren Glaubwürdigkeit, benutzt echte Straßennamen, ja er fügt sogar Tabellen mit Todeszahlen in seine fiktionalisierte Reportage ein.

Knapp 250 Jahre später prägt Michael Crichton mit seinem ebenfalls als Tatsachenbericht präsentierten Roman „The Andromeda Strain“ das Genre des modernen Techno-Thrillers. Bei ihm kommt das tödliche Virus aus dem All. Der Roman ist auf dem Höhepunkt des Weltraumzeitalters erschienen, einen Monat vor der ersten Mondlandung.

Zeitlos sind indes Crichtons detailreiche Schilderungen der mikroskopischen Detektivarbeit, mit der die Biochemiker im Wettlauf mit der Zeit versuchen, das tödliche Virus zu entschlüsseln. Die recht texttreue Verfilmung von Robert Wise aus dem Jahr 1972 wurde von der US-Gesellschaft für Infektionskrankheiten noch 2003 als „bedeutendster und wissenschaftlich korrektester Film des Killervirus-Genres“ hervorgehoben.

Angstlust im Kino

Vor dem Streaming-Zeitalter spielte das Genre gerne mit der Angstlust, die sich daraus ergab, dass der Kinogänger inmitten potenzieller Ansteckungsherde saß. Am eindrücklichsten hat das Kameramann Michael Ballhaus in Wolfgang Petersens Film „Outbreak“ (1995) gezeigt. Die Szene auf der Leinwand spiegelt diejenige davor: Ein Infizierter hustet im Kinosaal feucht ab, die Kamera fährt schwerelos die Reihen hinab, die Menschen sind nur noch unscharfe Farbkleckse, in den Fokus rücken die herumfliegenden Tröpfchen – bis die Kamera direkt in den Mund einer lachenden Zuschauerin zoomt.

Viel konkreter kann man nicht werden. Tatsächlich überwogen in den Jahren vor Crichton Fiktionen, in denen Pandemien als Metaphern für die Willkür der Existenz und den Wert des Zusammenhalts dienten: Albert Camus’ „Die Pest“ (1947) oder „Die Stadt der Blinden“ (1995), José Saramagos späte Antwort auf Camus. In Mary Shelleys Zukunftsroman „The Last Man“ (1826) rottet die Pest die gesamte europäische Bevölkerung aus, bis auf einen Überlebenden, der als einsamer Wanderer in der nun menschenleeren Natur verschwindet.

Richard Matheson hat das Thema in seinem oft verfilmten Roman „I Am Legend“ (1954) variiert: Trotz der vampirartigen Kreaturen, gegen die der letzte Mann hier kämpfen muss, ist das Buch eine Meditation über die Einsamkeit. Die Abwesenheit von Gesellschaft ist die größte Bedrohung einer Pandemie.