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Volker Kutscher über Greta Thunberg„Diese mit Enthusiasmus vorgetragene Naivität besorgt mich“

Lesezeit 10 Minuten
Schriftsteller  Volker Kutscher steht im Klettenbergpark. Er trägt einen schwarzen Pullover und eine Lederjacke und blickt in die Kamera.

Schriftsteller Volker Kutscher im Klettenbergpark. Aus dieser Gegend stammt seine Romanfigur Gereon Rath

Der Kölner Schriftsteller Volker Kutscher über seinen Gereon-Rath-Krimi „Der nasse Fisch“, der in diesem Jahr das „Buch für die Stadt“ ist, Lehren aus der Geschichte und seine Sorge um die Demokratie.

Herr Kutscher, Sie haben vor 20 Jahren Ihre Festanstellung als Tageszeitungsredakteur gekündigt, um die Reihe über Gereon Rath zu schreiben. Das war ein großer Schritt.

Ursprünglich wollte ich ja nur einen einzigen Roman über das Berlin der frühen 1930er Jahre schreiben, daraus ist dann dieses Monster von Rath-Projekt geworden. Im ersten groben Konzept waren das acht Bände, und die hätte ich nicht wie bisher nebenher schreiben können. Mir war aber klar, wenn ich es jetzt nicht mache, wäre ich irgendwann in Rente gegangen und hätte gedacht: Mist, hättest du es doch mal versucht. Also habe ich mir zwei Jahre Zeit gegeben, um es zu probieren. Im Frühsommer 2005 war ich mit dem Manuskript des Nassen Fischs fertig und hatte auch schon einen Agenten. Ich war euphorisch und dachte, das läuft.

Und, lief es tatsächlich so gut?

Leider nein. Anderthalb Jahre gab es nur Absagen, aber mein Literaturagent Uwe Heldt hat mir immer wieder Mut zugesprochen und an das Projekt geglaubt. Uwe, der leider vor einigen Jahren gestorben ist, verdanke ich sehr viel. Und er hatte recht: Irgendwann kam ein Angebot, und dann setzte plötzlich ein Wettbieten um mein Manuskript ein. Ein komisches Gefühl nach anderthalb Jahren Durststrecke.

Gab es Momente, in denen Sie dachten, das war eine Schnapsidee?

Ja, klar. Aber ich habe nicht mit mir gehadert, weil ich dachte: Ich habe es wenigstens probiert! Und wenn die Welt es nicht will, dann habe ich eben Pech gehabt. Ich war schon dabei, reumütig in eine Festanstellung zurückzukehren, hatte bereits erste Bewerbungen losgeschickt. Parallel aber auch schon mit dem zweiten Rath-Roman begonnen. Man sollte an sich selbst und daran, was man macht, glauben. Man darf sich nicht entmutigen lassen und muss weitermachen.

Irmgard Keun ist eine meiner Heldinnen. „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“ haben mir sehr geholfen, ein Gefühl für diese Zeit zu bekommen
Volker Kutscher

Sie sagten, Sie wollten über die frühen 1930er Jahre schreiben. Wann haben Sie entschieden, „Der nasse Fisch“ schon 1929 spielen zu lassen?

1929 war es spätestens so weit, dass die stabile Phase der Republik zu Ende ging, vor allem durch die Wirtschaftskrise und Gustav Stresemanns Tod. Ich entschied mich, mit den Mai-Unruhen zu beginnen, die dazu beigetragen haben, die Spaltung der Arbeiterbewegung in Kommunisten und Sozialdemokraten zu vertiefen. Zum ersten Mal seit Jahren gab es wieder bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen. Mit dieser Unruhe und Unsicherheit wollte ich einsetzen.

Dass die Reihe in Berlin spielen sollte, war vermutlich von Beginn an klar, oder?

Ja. Ich bin ein großer Fan der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Diese Romane sind größtenteils in Berlin angesiedelt, und diese Welt wollte ich mit dem amerikanischen Gangster-Mythos kreuzen. Diese Welt ging 1933 unter, und als ich mich entschlossen hatte, auch die Jahre nach dem Machtantritt der Nazis zu erzählen, wusste ich, dass ich das Konzept für meine Reihe gefunden hatte. Auch wenn sich die Welt so radikal ändert, geht der Alltag weiter. Da ging es den Menschen auch nicht anders als uns heute. Am 30. Januar 1933 war nicht klar, was noch alles folgen sollte; nicht wenige haben gedacht, Hitler hält sich ein paar Wochen an der Macht, wie die anderen Kanzler von Hindenburgs Gnaden, und das war es dann.

Sie haben sich bei der Recherche immer stark auf Zeitungen konzentriert. Mittlerweile sind Sie im Jahr 1938 angekommen, da gab es keine freie Presse mehr. Wie gehen Sie damit um?

Das ist jetzt ein ganz anderer Zugang, weil man den Zeitungen nicht mehr trauen kann. Die sind alle gleichgeschaltet, auch die ehemals liberalen, und liefern eine Mischung aus Parteipropaganda und harmlosem, kleinbürgerlichem Gartenlaubenkitsch. Das ist immer schlimmer geworden. Ich habe geschaut, was es zum 9. November gab, zur Pogromnacht. Nichts. Höchstens eine kleine versteckte Meldung. Umso größer und empörter wurde über das Attentat von Herschel Grynszpan auf den Diplomaten Ernst vom Rath berichtet, das den angeblichen Volkszorn ja auslöste. Es hat jeder mitbekommen, die Scherben und Rauchsäulen am nächsten Morgen waren ja unübersehbar, aber in den Zeitungen stand so gut wie nichts.

Wie wichtig war die Literatur aus der Zeit für Sie?

Sehr wichtig. Irmgard Keun ist eine meiner Heldinnen. „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“ haben mir sehr geholfen, ein Gefühl für diese Zeit zu bekommen, genauso wie Erich Kästner und Alfred Döblin. Bei Keun schätze ich, dass die Ich-Erzählerin mit ihrer scheinbaren Naivität all die Herren entlarvt, denen sie begegnet. Das ist so eine böse Ironie. Die Art und Weise, wie sie die Männerwelt bloßstellt, das ist große Kunst.

Bei mir sind die Nazis nicht nur brutale Knallchargen, die böse sind und man weiß nicht, warum. Die kamen nicht irgendwo aus dem Weltall, das waren wir Deutsche
Volker Kutscher

Es gibt zwei Hauptfiguren in der Reihe. Charlotte Ritter ist entschiedene Nazi-Gegnerin, Gereon Rath ist auch kein Anhänger. Hatten Sie da nicht Sorge, dass Sie das falsche Bild verbreiten, die meisten Deutschen seien ja gar keine Nazis gewesen?

Das hoffe ich nicht. Charly ist kein Nazi, aber Gereon ist vielleicht nur ihretwegen keiner. Er wäre mit seiner Indifferenz vielleicht nicht zum überzeugten Nazi geworden, aber Mitläufer aus Karrieregründen, das wäre schon denkbar. Und bei den anderen Figuren gibt es ja genügend Nazis. Den idealistisch naiven wie Gräf, der glaubt, es ist das Beste für Deutschland. Und viele andere Figuren, die entweder schon Nazis sind oder die in diese Richtung kippen. Aus den unterschiedlichsten Gründen.

Mein Eindruck ist, es ist Ihnen wichtig, ohne erhobenen moralischen Zeigefinger zu erzählen.

Natürlich. Bei mir sind die Nazis nicht nur brutale Knallchargen, die böse sind und man weiß nicht, warum. Die kamen nicht irgendwo aus dem Weltall, das waren wir Deutsche, normale Menschen, die einen normalen Alltag lebten. Die gibt es auch heute noch. Kaum jemand würde sich heute gerne Nazi nennen lassen, das Wort ist verbrannt; viel gefährlicher ist es, in diese Denke reinzurutschen und es nicht zu merken. Ich habe das Gefühl, dass das immer mehr geschieht, und da müssen wir alle gegenhalten, wenn wir die Demokratie retten wollen.

Ein wichtiges Thema in Ihren Romanen ist natürlich Antisemitismus. Schauen Sie nach der intensiven Beschäftigung mit der NS-Zeit anders auf die aktuelle Entwicklung?

Der Antisemitismus war ja nie weg. Aber dass er so hochkocht, sich so ungezügelt Bahn bricht, hätte ich nicht gedacht. Nach dem bestialischen Massaker der Hamas war ich erst einmal sprachlos. Aber statt Mitleid mit den Opfern dieses Pogroms gab es antisemitische Demonstrationen, nicht als Reaktion auf die ersten israelischen Angriffe gegen Gaza, die gab es da ja noch gar nicht, sondern als direkte Reaktion auf das Massaker. Das hat mich schockiert.

Wie besorgt sind Sie?

Die Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge, auch wie die Ereignisse in Israel teilweise rezipiert wurden. Dieses brutale Gemetzel, das die Hamas angerichtet hat, richtet sich ganz allgemein gegen die westliche Kultur, das ist aus demselben Geist geboren wie der IS, das sind Islamisten. Wer das als Freiheitskampf bezeichnet, verdreht die Fakten und ist ein antisemitischer Faschist. Wer sich dem anschließt, unterstützt grenzenlosen Hass.

Die grassierende Geschichtsvergessenheit ist ein großes Problem. Das sieht man gerade in der Palästina-Debatte, wenn junge Aktivistinnen wie Greta Thunberg solchen Mist erzählen
Volker Kutscher

Haben wir das Problem zu lange ignoriert?

So sieht es aus. Wenn man sieht, welche antisemitischen Klischees in den Köpfen immer noch herumgeistern, auch bei gebildeten Menschen, bei denen man es nicht erwarten würde. Aufklärung, Bildung ist trotzdem die einzige Lösung. Die grassierende Geschichtsvergessenheit ist ein großes Problem. Das sieht man gerade in der Palästina-Debatte, wenn junge Aktivistinnen wie Greta Thunberg solchen Mist erzählen. Diese mit Enthusiasmus vorgetragene Naivität besorgt mich.

Lässt sich die Situation heute mit der in den 1930er Jahren vergleichen?

Heute ist es kein staatlich verordneter Antisemitismus, deswegen kann man die antisemitischen Übergriffe in Deutschland nicht vergleichen mit den Ereignissen im Jahr 1938, aber man kann sie definitiv mit dem Pogrom vergleichen, der sich bereits 1923 im Berliner Scheunenviertel ereignete. Damals sind Juden von einem Mob verprügelt und bestohlen worden. Das passiert heute wieder. Und da erwarte ich nicht nur vom Staat, sondern auch von der Zivilgesellschaft, dass man zu seinen jüdischen Freunden und Nachbarn steht.

Der Historiker Heinrich August Winkler hat jüngst im „Spiegel“ gesagt: „Ich hoffe, dass Deutschland auch aus einer schweren Krise nicht wieder als Diktatur hervorgeht.“ Teilen Sie diese Sorge? Es herrschte doch lange der Glaube vor, unsere Demokratie sei so gefestigt, dass eine erneute Diktatur nicht möglich sei.

Das denke ich schon länger nicht mehr. Ich mache mir Sorgen, weil die Demokratiefeinde immer mehr werden. Mit dem Wort Demokratie wird viel Schindluder getrieben. Der Mob, der in Washington das Kapitol gestürmt hat, wollte angeblich auch die Demokratie retten. Denken und Worte passen da nicht mehr übereinander. Ich will nicht schwarzmalen, aber man sollte wissen, dass die Demokratie nicht von allein funktioniert. Man muss wachsam bleiben, wählen gehen, sich einbringen und dagegenreden, wenn politische Idioten den Mund aufmachen. Sonst geht die Demokratie vor die Hunde. Gleichgültigkeit ist immer ein Problem.

Haben wir den Wert der Demokratie aus den Augen verloren?

Ich hoffe, nicht. Der Glaube an die Demokratie war lange nicht selbstverständlich im deutschen Denken. In Weimar sowieso nicht, und ohne das Wirtschaftswunder wäre es mit der Akzeptanz nach dem Krieg wohl auch nicht so schnell gegangen. Ernst wird es, wenn es den Leuten wirtschaftlich dreckig geht.

Wie viele Brandmauern wurden schon eingerissen? Was da teilweise von Politikern geäußert wird, ist ja nichts anderes als Nazi-Rhetorik.

So ist es. Es sickern langsam immer mehr Vokabeln ein. Deshalb ist es so wichtig, sich für Geschichte zu interessieren, um zu wissen, woher diese Worte kommen. Mich ärgert auch, dass alle auf die Flüchtlingsproblematik schielen. Das ist reiner Populismus. Er wird geschürt von AfD und Co. mit Steigbügelhaltern aus CDU und CSU, und die Regierung lässt sich von denen dann noch vor sich hertreiben. Es ist wieder wie in den 90ern mit der „Das Boot ist voll“-Rhetorik. Ich will nicht sagen, dass es keine Probleme mit Migration gibt, aber wir müssen sachlich darüber reden und die Debatte mal wieder runterkochen. Außerdem hat unser Land auch noch eine Menge anderer Baustellen.

Aber Sie sind noch nicht zum Menschenfeind geworden über die Beschäftigung mit dieser Periode?

Nein, nein. Der Mensch ist ja eigentlich ein wunderbares Wesen. Aber in der Masse wird es oft schwierig. Wir waren im Sommer im Urlaub am Chiemsee und sind dort zufällig in das Bierzelt geraten, in dem Hubert Aiwanger geredet hat, die erste Rede nach dem Skandal um das Flugblatt. Darüber hat er kein Wort verloren, aber ansonsten volles Rohr rechtspopulistisch vom Leder gezogen. Und das ganze Zelt hat gejubelt. Auf einem ganz normalen Volksfest. Hätte der politisch bedenklichere Dinge gesagt, hätten die auch gejubelt. Da war schon ein bisschen Sportpalaststimmung.

War Ihnen klar, dass Sie Ihre Reihe 1938 mit der Pogromnacht enden lassen wollen?

Das erste Konzept war ja nur ein sehr grobes: vier Romane vor 1933, vier danach; so hätte die Reihe 1936 geendet. Mir wurde aber schnell klar, dass ich bis 1938 schreiben muss, bis zum endgültigen Zivilisationsbruch: ein Pogrom im ganzen Land, den alle mitbekommen haben.

Und eine weitere Fortsetzung schließen Sie aus?

Ja. Nach zehn Romanen ist Schluss. Krieg und Shoah will ich nicht erzählen. Das überlasse ich der Fantasie meiner Leser, was mit meinen Romanhelden in den Jahren nach 1939 geschieht, wenn die Nazis ihr eigenes Land vor die Wand fahren, Millionen Menschen ermorden und die halbe Welt in einen Krieg stürzen. Ich hoffe immer noch, dass wir aus der Geschichte lernen. Ich bin da derzeit nicht sehr optimistisch, aber man darf die Hände trotz allem nicht in den Schoß legen.


„Ein Buch für die Stadt“ ist eine gemeinsame Aktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Unterstützt wird die Initiative vom Unternehmen JTI. Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ war 2003 der erste Roman, um den sich in Köln und der Region zahlreiche Veranstaltungen drehten.

Volker Kutscher stellt „Der nasse Fisch“, das diesjährige „Buch für die Stadt“, am Sonntag, 19. November, 11 Uhr, bei einer Matinee im Schauspielhaus in Mülheim vor. Tickets kosten 15, ermäßigt acht Euro. Hier können Sie die Tickets kaufen.

Wir verlosen fünf mal zwei Tickets. Wenn Sie gewinnen wollen, schreiben Sie bitte eine Mail mit Ihrem Namen und dem Betreff „Volker Kutscher“ an ksta-kultur@kstamedien.de (bis 18.11., 13 Uhr). Die Gewinner werden am Samstagnachmittag informiert.