Vorwürfe gegen Plácido DomingoMutmaßliche Übergriffe waren ein offenes Geheimnis
- Startenor Plácido Domingo wehrt sich gegen Vorwürfe, er habe Kolleginnen sexuell belästigt.
- Sein anstößiges Verhalten wurde offenbar stillschweigend geduldet.
- Dass Domingos beispiellose Karriere auf diese Weise zu Ende geht, ist aber traurig.
- Eine Analyse.
Köln – „Ich erkenne allerdings, dass die Regeln und Standards, an denen wir heute gemessen werden, ganz andere sind als in der Vergangenheit.“ Will sagen: Der Kollegin einfach unter das T-Shirt oder den Rock greifen, ungefragt die Zunge in ihren Mund stecken, mit nächtlichen Anrufkaskaden um Beischlaf bitten - das sind heute keine Kavaliersdelikte mehr. Der große Opernsänger Plácido Domingo ist irritiert.
Auf den einen namentlich gemachten und die acht anonymen Vorwürfe, er habe in den 80er Jahren Frauen sexuell belästigt und ihre Karrieren ausgebremst, wenn sie ihm nicht zu Willen waren, antwortete er einigermaßen eierig: „Die Anschuldigungen, die bis zu 30 Jahre zurückliegen, sind zutiefst beunruhigend und - so wie sie dargestellt werden - unzutreffend. Ich habe geglaubt, dass all meine Handlungen und Beziehungen immer gewünscht und einvernehmlich waren.“ Und dann kommt das mit den neuen Standards und Regeln.
Angeblich hat man Frauen empfohlen, nicht mit ihm allein im Raum zu sein
Falsch ist das ja nicht. Auch die Praxis, Männer Jahrzehnte später wegen ihrer sexuellen Fehlhandlungen und Gewalttätigkeiten anzugreifen, gehört zu diesen neuen Regeln und Standards. Ebenso die bedenkliche Wirkung dieser Angriffe, die vor jeder rechtskräftigen Verurteilung die Existenzen der Angegriffenen zerstören.
Dass die beispiellose Karriere des 78-Jährigen nach 4 000 Auftritten in 150 verschiedenen Rollen, nach legendären und klassischen Opernaufnahmen ein solches Ende nimmt, ist traurig – egal, ob er das „verdient“ oder nicht. Die Salzburger Festspiele immerhin halten an seiner Verpflichtung für die kommenden Aufführungen fest. Zugleich aber will man nicht glauben, dass Domingo das ihm vorgeworfene Verhalten als wie auch immer historischen „Standard“ einschätzt. Gewiss, bis zum 19. Jahrhundert galt das weibliche Opernpersonal, ob singend oder tanzend, unterhalb des Star-Rangs als Freiwild, und der Übergang zur Prostitution war fließend.
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Seitdem sind aber mehrere Wellen Frauenbewegung über die Welt gegangen, nach denen Domingos Übergriffe, falls sie denn wie oben geschildert stattgefunden haben, nur noch im Bereich von Nachtclubs und Bordellen üblich sind – auf sein lateinisches Temperament hat sich der in Mexiko aufgewachsene Spanier Domingo anders als Daniel Barenboim immerhin nicht herausgeredet. Ebenso wenig könnte Domingo die Verknüpfung von Karriere und Sex, das egoistische Ausnutzen von verliehener Macht, ernsthaft für moralischen Standard ausgeben. Auch wenn es zu den Gepflogenheiten des Geschäfts gehören mag, unwillige Kolleginnen – aber auch unliebsame Kollegen – von gemeinsamen Auftritten auszuschließen, wie das Domingo nachgesagt wird, kann an der moralischen Unzulässigkeit dieser Praxis kein Zweifel bestehen. Was indes für den Fortbestand einer Unsitte nie ein Problem war.
Plácido Domingo galt in der Branche als – sagen wir mal – unruhig. Angeblich hat man Frauen empfohlen, nicht mit ihm allein im Raum zu sein. Zu seinen Bedürfnissen soll der entspannende Geschlechtsverkehr vor der Aufführung gehört haben. Das ist kein Problem, wenn dergleichen Entspannung denn „gewünscht und einvernehmlich“ vollzogen wird. Nur: Wer will sich dem großen Mann entziehen, gar schuld sein, wenn dieser abends auf der Bühne nicht in Form ist?
Es wird vermutlich noch so einiges über große Namen enthüllt werden
Wie im Fall von Barenboims Macht-Cholerik oder auch den Pädophilie-Vorwürfen gegen James Levine hat der Betrieb über Domingo längst schon alles gewusst, nur die ö ffentliche Klage ist neu. Es wird vermutlich auch im Bereich der E-Musik noch so einiges über große Namen enthüllt werden. Denn zu den Regeln und Standards von einst gehörte vor allem: Das bleibt Geheimnis, nicht selten auch offenes Geheimnis. Aber dieser Standard war nur stillschweigend verabredet, nicht verpflichtend.
Justiziable Vorwürfe konnte man auch damals anzeigen, und Vorwürfe ohne juristische Relevanz waren privater Klärung aufgegeben, weil die Toleranzgrenze zu dem, was als Übergriff empfunden ist, individuell verschieden ist. Allerdings erscheinen Anzeige wie private Klärung angesichts des realen Machtgefälles und der Empfindlichkeit des Themas sicherlich noch immer oft aussichtslos.
Die öffentliche Keule, die MeToo schwingt, mag oft grausam zuschlagen und ist in ihrer denunziatorischen Form nicht unbedenklich. Aber offensichtlich ist dieser öffentliche Pranger das einzige Mittel, mit dem die Achtung vor der sexuellen Selbstbestimmung neu justiert werden kann.