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Wahlkölner gegen AntisemitismusChilly Gonzales fordert Umbenennung der Richard-Wagner-Straße

Lesezeit 7 Minuten
Der Musiker Chilly Gonzales kniet vor einem Haus in der Richard-Wagner-Straße, dessen Fassaden Relief-Büsten von Richard Wagner zieren.

Chilly Gonzales will die Richard-Wagner-Straße in Tina-Turner-Straße umtaufen.

Chilly Gonzales steigt in die Kölner Lokalpolitik ein und will Richard Wagner auf Straßenschildern durch Tina Turner ersetzen.

Mitte März hatte der kanadische Pianist und Entertainer Chilly Gonzales auf change.org eine Petition auf den Weg gebracht. In der forderte er die Umbenennung der Richard-Wagner-Straße in der Kölner Innenstadt. Zwar sei Wagner ein großer Komponist gewesen, schreibt Gonzales auf der Internet-Plattform, aber ein scheußlicher Mensch, der in seinem Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ – den er 1869 zum ersten Mal unter seinem eigenen Namen veröffentlichte – den ohnehin bestehenden Antisemitismus noch befeuert habe.

Darüber, dass es sich bei dem Pamphlet um eine üble Hetzschrift handelt, herrscht allgemeine Einigkeit. Nicht jedoch darüber, was Wagners Antisemitismus für sein Werk und für den Umgang mit diesem und speziell mit seiner Person bedeutet. Führt ein direkter Weg von Wagner zu Hitler oder haben die Nazis sein Werk zu Unrecht usurpiert? Eine Diskussion, die seit Jahrzehnten geführt wird. Unstrittig ist allein, dass die Richard-Wagner-Straße im Jahr 1884, nur anderthalb Jahre nach dem Tod des Ring-Komponisten, nach diesem benannt wurde und heute vom Habsburgerring bis zur Aachener Straße verläuft.

Zuerst schien Gonzales' Einwurf im Sand zu verlaufen. Doch dann warf der Musiker die Publicity-Maschine an, mit einem Auftritt in Jan Böhmermanns TV-Show „ZDF Magazin Royale“, in dem er nicht nur seinen Vorschlag unterbreitete, die Richard-Wagner- zur Tina-Turner-Straße umzuwidmen, sondern auch ein passendes Lied präsentierte: „F*ck Wagner“.

In diesem nennt Gonzales – über dem vom Rundfunk Tanzorchester Ehrenfeld interpolierten Walkürenritt – den Komponisten ein „Monster“, verflucht ihn und seine „Nazi-Enkeltochter“. Doch ganz so eindeutig bleibt es nicht. Nach und nach wandelt sich das Stück zur Kritik an Fan- und Cancel-Kultur. Am Ende klagt sich der rappende Pianist selbst an: Wagner anzugehen sei billig und allzu leicht, er sei auch nur ein um Aufmerksamkeit buhlender Clown im Medienzirkus also: „Fuck Chilly, fuck everybody! Wir sind alle schuldig, wir sind alle Richard.“

Fuck Chilly, fuck everybody! Wir sind alle schuldig, wir sind alle Richard.
Chilly Gonzales

Da besteht Klärungsbedarf. Wir treffen Chilly Gonzales zum Ortstermin in der Richard-Wagner-Straße, vorbei auch am Haus mit der Nummer 43, das Wandreliefs mit der Büste des jungen Komponisten zieren. „Auf meinem Heimweg quere ich die Richard-Wagner-Straße“, erzählt der Wahlkölner, „dann komme ich an der Synagoge vorbei und am Rathenau-Platz. Irgendetwas fühlt sich hier falsch an.“

Die Umbenennungskampagne sei kein Werbegag, kein Witz, auch wenn Humor zu seiner Kunst immer dazu gehört. „Mit der Zeit werden die Leute verstehen, dass es mir sehr ernst damit ist. Als jemand mit jüdischen Wurzeln bin ich persönlich besorgt darüber, dass jemand, der so offen antisemitisch war, heute noch eine Straße weniger als einen Kilometer von meinem Wohnort entfernt hat.“

Die entsprechenden Unterlagen habe er bei Andreas Hupke, dem Bezirksbürgermeister für Köln-Innenstadt, eingereicht. Nun verfolge er fasziniert den bürokratischen Prozess und hoffe auf zusätzlichen öffentlichen Druck. Und darauf, nicht missverstanden zu werden. Denn keinesfalls wolle er Wagner canceln: „Das würde ja bedeuten, dass wir uns seine Opern nicht mehr anhören, seine Platten aus den Läden verbannen oder ihn bei Spotify rausschmeißen.“

12.04.2024
Köln:
Der Musiker Chilly Gonzales fordert die Umbenennung der Richard-Wagner-Straße in Tina-Turner-Straße. 
Foto: Martina Goyert

Chilly Gonzales in der Richard-Wagner-Straße

Denjenigen, die argumentieren, dass man den Menschen von der Kunst trennen sollte, gebe er durchaus recht. Er selber liebe weiterhin Woody Allens Filme, R. Kellys Songs und, ja, auch Wagners Opern. „Aber warum ist dann die Straße nach dem Menschen benannt? Ich hätte kein Problem damit, wenn sie Tristan-und-Isolde-Allee oder Parsifal-Gasse hieße, dann würden wir das Kunstwerk ehren.“ Aber, möchte man einwerfen, die Straßen des Komponistenviertels wurden doch jeweils nach dem Schöpfer eines großen Werks und nicht nach dem Privatmenschen dahinter benannt?

„Ja, aber Wagner ist eben kein Typ, von dem wir zufällig über Dritte gehört haben, was er privat von sich gegeben hat“, hält Gonzales dagegen: „Er hat seine Prominenz auf dem Höhepunkt seines Ruhms genutzt, um dieses Buch ‚Das Judentum in der Musik‘ zu veröffentlichen. Damit hat er das Recht verwirkt, dass sein Name allein für seine Kunst steht.“ Wagner habe die Politik ins Spiel gebracht, da könne er sich nicht hinter seiner Kunst verstecken. Wer, wie zuletzt Kanye West, seinen Antisemitismus öffentlich mache, der müsse auch auf eine andere Art und Weise öffentlich Rechenschaft ablegen.

„Die Moralvorstellungen ändern sich. Vielleicht wird in 50 Jahren jemand sagen, wir können unmöglich eine Schule nach Chilly Gonzales benennen, weil er kein Veganer war. Aber ich spreche mich nicht öffentlich dafür aus, mehr Fleisch zu essen. Ich habe keinen Song herausgebracht, der ‚I love Bacon‘ heißt. Richard Wagner dagegen hat ein Buch mit antisemitischen Hetzreden geschrieben.“

Vielleicht, seufzt Gonzales, sollte man grundsätzlich keine Straßen mehr nach Personen benennen. Warum dann ausgerechnet nach der vor einem Jahr im schweizerischen Küsnacht gestorbenen Tina Turner? „Weil sie eine Kraft des Fortschritts und der Positivität war. Weil sie fast zehn Jahre lang Köln zu ihrer Heimat gemacht hat, aber noch nicht in der Stadt vertreten ist. Im Gegensatz zu Wagner, der nicht den geringsten Bezug zu Köln hat.“

Chilly Gonzales lebt nun bereits seit zwölf Jahren in Köln, seit zehn Jahren in unmittelbarer Nähe zur Richard-Wagner-Straße. Das Thema beschäftigt ihn freilich schon sehr viel länger und das hat private Gründe, denn Wagner ist der „künstlerische Gott“ seines Vaters. „Er besuchte fast jeden Sommer Bayreuth, und als ich 16 war, nahm er mich mit. Ich sah den Harry Kupfer/James Levine-Ring. Die Musik ist objektiv fantastisch. Und die Inszenierung! Laser zuckten, Wotan und all die Götter trugen Plexiglas-Aktenkoffer. Es war eine Kritik am Kapitalismus der 80er Jahre. Ich habe es geliebt.“

Wagners Antisemitismus blieb damals – im Gegensatz zu heute – auf dem Grünen Hügel unerwähnt. Aber der junge Jason Beck – wie Gonzales bürgerlich heißt – begann, besessen von der überlebensgroßen Figur des genialen Tonsetzers, selbst zu recherchieren. „Und dann habe ich sehr schnell gesagt: 'Oh mein Gott“‚ und meinen Vater gefragt: 'Wusstest du davon?‘ Er hatte als Jude nie den offensichtlichen Widerspruch zwischen seiner Wagner-Begeisterung und dem, was Wagner über die Minderwertigkeit der Juden schrieb, erwähnt. Und auf meine Frage sagte er diesen Satz, den ich jetzt auch in meinem Lied verwende: ‚Wir müssen den Menschen von der Kunst trennen.‘ Das war etwas, was mir seitdem im Kopf herumschwirrte.“

Das sei keine Ausrede, sagt Gonzales, sondern eine echte, knifflige Frage. Die sich noch einmal in ganz anderer Dringlichkeit stelle, wenn man selbst Künstler ist und genau wisse, dass man nicht perfekt ist. Wie genau soll sie aussehen, die Beziehung zwischen Mensch und Werk? Wo verläuft die Grenze? „Deshalb stelle ich mich selbst infrage und sage ‚Wir sind alle Richard‘, wir haben alle eine dunkle Seite, wir gehören alle gecancelt. Die Leute mögen es, wenn man die moralisch überlegene Position einnimmt. Das verkauft sich gut: Ich mache jemand anderen zum Bösewicht, also muss ich selbst perfekt sein.“

Und was sagt der Vater heute zu den Aktivitäten seines Sohnes? „Ich habe ihm den Text von ‚F*ck Wagner‘ ausgedruckt. Ich glaube, er versteht es wirklich und unterstützt es auch. Vor allem die Aussage ‚Wir sind alle Richard‘ fand er sehr schön. Zuletzt hat er mir geschrieben und gefragt, ob es schon Neuigkeiten aus Bayreuth gebe?“

Die gibt es noch nicht. Und der Prozess, eine Straße umzubenennen, bleibt ein mühsamer. Chilly Gonzales bekräftigt noch einmal, dass er die Zeit und die Energie dafür mitbringe, es wäre ein Geschenk an die Stadt, die er liebe. Dann blickt er stadtauswärts und sagt: „Und ich würde gerne durch die Tina-Turner-Straße spazieren.“


Chilly Gonzales, 1972 als Jason Charles Beck in Montreal geboren, lebt seit 2011 in Köln. Seit dem Erfolg seines „Solo Piano“-Albums tritt er international in großen Konzertsälen auf.

Am 25. Juli spielt Gonzales auf dem Kölner Roncalliplatz. Im September soll ein neues Album erscheinen.

Die Petition finden Sie hier