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Warum kranke Frauen oft das Nachsehen hatten - und haben

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Berlin – Frauen werden bis heute in der Medizin benachteiligt, kritisiert die britische Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn in ihrem Buch „Die kranke Frau”. Ihre Krankheiten würden häufig zu spät oder gar nicht erkannt, ihre Leidensgeschichten und Selbstauskünfte nicht ernst genommen. Auch die Forschung lasse Frauen oft links liegen. „Mythen über den weiblichen Körper und seine Krankheiten halten sich weiterhin mit großer Hartnäckigkeit”, so Cleghorn. In „Die kranke Frau” prangert sie eine systematische Benachteiligung von Frauen in der Medizingeschichte bis in die Gegenwart hinein an.

Als aktuelles Beispiel einer häufig fehldiagnostizierten Frauenkrankheit nennt sie die Endometriose, eine krankhafte, schmerzhafte Wucherung von Zellen der Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutterhöhle. Obwohl daran weltweit schätzungsweise jede zehnte Frau erkranke, werde sie immer noch sehr spät erkannt. Cleghorn selbst litt jahrelang unter einer schmerzhaften, nicht erkannten Autoimmunerkrankung, die bei ihr zu einer Odyssee durch Arztpraxen führte. Diese persönliche Krankengeschichte wurde der Auslöser für ihre Studien.

2500 Jahre Medizingeschichte

In dem sorgfältig recherchierten und eingängig geschriebenen Sachbuch blickt Cleghorn auf 2500 Jahre Medizingeschichte zurück, angefangen von den alten Griechen über die Verwissenschaftlichung der Medizin im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Es ist eine Abrechnung mit einer lange männlich dominierten Ärzteschaft, die sich allzu oft von Mythen, Vorurteilen und Sexismus habe treiben lassen, zum Nachteil der Patientinnen. Da Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein der Zugang zu einer qualifizierten medizinischen Ausbildung verwehrt worden sei, hätten Männer die Deutungshoheit über die Leiden der Frauen behalten.

Die Lektüre ist oft schmerzhaft, manchmal gruselig. Über Jahrtausende war den Ärzten der weibliche Körper demnach ein Rätsel, die Funktionsweise und das Zusammenspiel der Fortpflanzungsorgane verstanden sie nicht. Aus Mangel an Erkenntnissen sei gemutmaßt worden, dass allein die Gebärmutter die Biologie der Frau diktiert. Wenn eine Frau erkrankte, so sei nach Hippokrates der Grund eine unterbeschäftigte Gebärmutter gewesen, die im Körper auf Wanderschaft ging und in anderen Organen Krankheiten auslöste.

Der abstruse Mythos der nach Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft hungernden wandernden Gebärmutter hielt sich Cleghorns Ausführungen zufolge bis in die Neuzeit. Noch im 17. Jahrhundert habe der britische Arzt John Sadler behauptet, dass Frauen, die ihre Gebärmutter nicht ausreichend genutzt hätten, in Gefahr seien, den Verstand zu verlieren. Er sei im Übrigen selbstverständlich davon ausgegangen, dass Frauen ihre zum Teil schrecklichen Leiden aus weiblicher Scham still zu erdulden hätten.

Zudem hätten viele Ärzte den Frauen einen gefährlichen, unersättlichen Sexualtrieb unterstellt, dessen erstes Opfer natürlich der Mann gewesen sei. Psychische Leiden wie etwa Depressionen wurden unter weiblicher Hysterie abgehandelt, wie Cleghorn schreibt. Schlimmstenfalls ließen sich Ärzte wie der britische Gynäkologe Isaac Baker Brown demnach zu monströsen Operationen wie der Klitorisentfernung hinreißen, die er als Heilmittel für Epilepsie und Hysterie anpries.

Brutale Experimente an Menschen ohne Macht

Für brutale gynäkologische Experimente wurden dabei oft Frauen der Unterschicht, in Amerika auch Sklavinnen herangezogen, die man für weniger schmerzempfindlich hielt, wie es im Buch heißt. Viele Ärzte, die selbst nie die Qualen der Geburt ertragen mussten, hielten diese demnach für unvermeidlich, wenn nicht sogar für eine „gottgegebene Strafe für Gebärende” - und widersetzten sich der Anästhesie, als diese endlich möglich war.

Was die Neuzeit angeht, stützt sich Cleghorn vor allem auf die amerikanische und britische Medizingeschichte. Das meiste davon ist wohl aber auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Trotz vieler erschreckender Fakten nennt die Autorin auch positive und ermutigende Beispiele einzelner Frauen und feministischer Organisationen, die erfolgreich den Kampf aufgenommen hätten gegen die folgenreiche Entmündigung ihrer Geschlechtsgenossinnen in der Medizin.

Das Buch ist deutlich geprägt von Cleghorns feministischem Engagement und endet mit einem eindrücklichen Appell an die Ärzteschaft: „Wir sind die verlässlichsten Zeuginnen dessen, was in unserem Körper geschieht. Das Leben von Frauen hängt davon ab, dass die Medizin lernt, ihnen zuzuhören.”

© dpa-infocom, dpa:220907-99-659851/3 (dpa)