Die WDR-Doku „Unser Sommermärchen - die WM 2006“ will die Vorfreude auf die EM aufgreifen. Der Blick zurück ist schockierend unkritisch.
WDR-Doku zur WM 2006Wer glaubt noch die Mär vom Sommermärchen?
Dass Fußballdokus nicht immer nur Begeisterung einfangen, wissen wir spätestens seit der Amazon-Dokumentation „All or Nothing“, die hautnah das frühe Ausscheiden der Deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2022 in Katar begleitete - inklusive Gänsereferat von Hansi Flick. Was folgte, war wohl ein unerreichter Tiefpunkt des DFB, der dann doch rechtzeitig vor der anstehenden Heim-EM überwunden wurde. Das verdankt sich auch einer überraschend spannenden Bundesligasaison mit einer Invincible-Season von Leverkusen, dem erfolgreichen Abschneiden der deutschen Teams in der Champions League und der Aussicht, mit Musiala und Wirtz gleich zwei Dribbelkünstler in der Mannschaft zu haben, die eine ganze Abwehrreihe austanzen können.
Die Vorfreude auf die EM bietet einen Anlass, auf das letzte Heim-Turnier zu schauen, das wie kaum ein anderes für Begeisterung gesorgt hat. In der WDR-Doku „Unser Sommermärchen - die WM 2006“ erinnern sich zum Beispiel ehemalige Fußballprofis wie Gerald Asamoah und Tuğba Tekkal an die Weltmeisterschaft. Selbst das alte Maskottchen Goleo wird aus dem Haus der Geschichte ausgegraben. Der Puppenspieler Martin Paas, der es 2006 zum Leben erweckte, schwelgt in Erinnerungen.
WDR-Doku „Unser Sommermärchen - die WM 2006“
Und diese Erinnerungen knüpfen sich, so zumindest in der Doku, an das WM-Motto: Die Welt zu Gast bei Freunden. Ein polnisches Pärchen berichtet darüber, wie viel es ihnen bedeutet hat, dass mit Miroslav Klose und Lukas Podolski zwei Fußballer mit polnischen Wurzeln in der deutschen Nationalmannschaft spielten. Wir begleiten auch Rebecca Zaun von der Kölner Ghana Union und wie sie Ghanas erste WM-Teilnahme erlebt hat. „Morgens sind viele Leute nach Köln gekommen. Bekannte, Geschwister, aus London, von überall. Und die ganze Straße war bunt.“
Doch wer einen kritischen Blick auf die Weltmeisterschaft sucht, muss zwischen den Zeilen lesen. Mit Bierkrügen und Deutschlandfahnen wird der „fröhliche Patriotismus“ besungen, zum Beispiel mit der Aussage „Gemeinschaftsgefühl ist ja auch Nationalgefühl“. Diese Dinge gleichzusetzen, hat selten zu etwas Gutem geführt. Es ist also wenig verwunderlich, dass Tuğba Tekkal erzählt, wie sie rassistisch beleidigt wurde, als sie mit ihrem ersten Deutschlandtrikot über die Straße lief.
Kein Wort zur Korruptionsaffäre rund um die WM-Vergabe
Doch solche Einwürfe sind selten. Kein Wort etwa zur Korruptionsaffäre um die WM-Vergabe, der übertriebene Alkoholkonsum wird als Teil der Gastfreundschaft beschrieben. Ein argentinischer Fan kommentiert die Lage: „Deutschland ist toll. Die Mädels sind echt scharf. Kein Mensch in diesem Land muss arbeiten, und alle trinken die ganze Zeit nur Bier.“
Den Grund für den positiven Gesamttenor fasst Tuğba Tekkal, die mit ihrem Verein Scoring Girls geflüchtete Mädchen unterstützt und solche, die sich den Vereinsport nicht leisten können, in der Doku am besten zusammen: „Ich bin davon überzeugt, dass es über den Mannschaftssport sehr viel zu bewegen gibt, wie Teamgeist, Zugehörigkeit, Teilhabe, und dass man genau diese Dinge mitnehmen kann in den Alltag.“ Das beweise ihre Geschichte, und deshalb sei sie ein Fan davon, die positiven Geschichten zu erzählen, die der Fußball schreibt.
Die Doku begräbt die Realität mit ihrer Botschaft
Aber ist das ein Grund dafür, die negativen Geschichten auszusparen? Kann man ohne sie überhaupt verstehen, dass Ingo Zamperoni ein paar Jahre nach der Friede, Freude, Eierkuchen-WM während der Halbzeitpause eines Deutschland-Italien-Spiels einen Shitstorm auslöste, und das nur, weil er den Zuschauern zu gut gelaunt gelächelt hat (es stand 2:0 für Italien). Spätestens seit der WM in Katar sollte klar sein, dass die Veranstalter solcher Großereignisse gerne Harmonie wie ein Banner vor sich hertragen und gleichzeitig schlimmste Verfehlungen in Kauf nehmen.
Die Botschaft der Doku ist nachvollziehbar, zumal eine Europawahl ansteht. „Man sollte die nicht den falschen Leuten überlassen, diese Fahne“, mahnt Goleo-Träger Martin Paas. Und einem Verein wie Scoring Girls eine Bühne zu geben, ist ein hehres Anliegen.
Es spricht aber Bände, dass die Doku mit Paas endet, der sich aus dem Haus der Geschichte von Goleo verabschiedet. „Ich hol' dich nochmal hier raus. Wir fangen nochmal ganz von vorne an.“ Ein verständlicher Wunsch, wenn man an das Sommermärchen als Utopie der grenzenlosen Gemeinschaft glaubt. Auch ein verständlicher Wunsch in Zeiten, in denen der BVB Rheinmetall als neuen Sponsor verkündet. Aber wer meint, eine Zeitreise in die Mitte der 2000er würde unsere Probleme lösen, hat vermutlich ähnliche Erinnerungslücken wie die Doku.
Zur Sendung
„Unser Sommermärchen - Die WM 2006“. 31.05.2024, 21.00 - 21.45 Uhr bei WDR Fernsehen.