Wütendes Leben, gewaltsamer Tod
Die Engelbertstraße führt schräg zur Roonstraße auf den Zülpicher Platz zu, der wie alle Plätze in Köln diesen Namen nicht verdient – auch deswegen hat ihn Rolf Dieter Brinkmann vermutlich gehasst, wie er so vieles in Köln und anderswo im gleichen Atemzug beschrieb und hasste. Im Haus Nummer 65 in der Engelbertstraße hat Brinkmann gewohnt, im vierten Stock, aber vermutlich ergreift einen der Zauber dieser Tatsache nur, wenn man wie zufällig diese Abkürzung vom Ring zum Zülpicher Platz nimmt und dabei denkt: Hier ist Brinkmann langgelaufen. Schon, wenn man danach sucht, wo das Klingelschild war, ist der Zauber verflogen, schreibt der Lyriker Norbert Hummelt zurecht. Brinkmann war ein Phantom, in Vechta geboren, in Köln zu Hause, plötzlich fort in London, dann auf absurde Weise bei einem Verkehrsunfall gestorben, weil er in die falsche Richtung geschaut hat. Ein unsteter Geist der deutschen Nachkriegsliteratur.
In diesem Jahr wäre Brinkmann 80 Jahre alt geworden, 45 Jahre ist er nun tot, und genauso lang ist es her, dass er kurz nach seinem Unfall in London 1975 posthum der allererste Träger des Petrarca-Preises wurde. 80 Jahre – so alt hätte vielleicht sogar er werden können, hätte er seinen Alkohol-, Drogen- und Zigarettenkonsum irgendwann in den Griff bekommen, und wer weiß, vielleicht hätte er das nach ihm benannte Rolf-Dieter Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln alljährlich persönlich an den Nachwuchs verliehen? In Sachen Coolness hätte der eine Menge von ihm gelernt.
Der Kölner Germanist Roberto Di Bella hat der Autorenlegende nun ein Denkmal gesetzt, oder auch einen imaginären, virtuellen Gabentisch im Internet gedeckt, wie einer der Partygäste schreibt: Neben Norbert Hummelt haben sich Autoren, Filmemacher, Verleger und Fotokünstler wie Stan Lafleur, Michael Krüger, Ulrike Pfeiffer, Enno Stahl, Adrian Kasnitz und Uwe Kolbe an Di Bellas Literaturblog beteiligt, dessen Titel dem ansonsten so kritischen Jubilar wohl gefallen hätte – schließlich stammt er von ihm selbst, aus dem Band „Schnitte“: „Das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums“. Brinkmann, der Gegenschriftsteller in der spießigen, grauen Bundesrepublik, der ewige Antipode, der sich, endlich in London angekommen, in das Cover von Elton Johns „Yellow Brick Road“ hineinträumt. Auch das nimmt Di Bella gerne auf.
Der Blog ist Zeugnis der intensiven Beschäftigung Di Bellas mit Brinkmann, über den er seine Doktorarbeit schrieb (erschienen 2015 bei Königshausen & Neumann, Würzburg). Eine Visitenkarte zur Dissertation gleichsam, die der Literaturwissenschaftler kontinuierlich zu einem eigenständigen Werk ausbaute, wie man sich überzeugen darf: „Wildgefleckt“ ist ein reizvoll verwinkelter Brinkmann-Kosmos, in dem man sich auf anregende Weise verlieren kann, zwischen den Texten der Gastautoren ebenso wie in den kenntnisreichen Einordnungen Di Bellas, aber auch Bildern wie denen der Filmemacherin Ulrike Pfeiffer, die im Münchner Belleville Verlag das Buch „Engelbertstraße 65, vierter Stock Köln 1969“ veröffentlicht hat.
„Ach Scheiße/ das dachte ich heute in Köln, wo der Fluss nach Scheiße stinkt/ und über den Vorplatz an der Kathedrale/ zieht, als ich in der Engelbertstraße/ transzendierte,/ zerwühltes Bett“, so heißt es im Gedicht „Chevaux de Trait“, in dem der 1940 geborene Brinkmann seine Wahlheimat wenig schmeichelhaft verewigte, aber so, dass die Zeilen sofort aufhorchen lassen: Selten, dass man in der Engelbertstraße transzendiert. Brinkmann führte das Publikum an die Pop- und Undergroundliteratur heran, die man in den USA schrieb, er öffnete das Gedicht für den Alltag, er war der Seismograph der Erschütterungen 1968 – und als ihn in London ein Auto überfuhr, ging noch dieser Tod in den Mythos vom zornigen jungen Mann ein, der wütend lebte und gewaltsam starb.
ZUM BLOG
Roberto Di Bellas Literaturblog „RDB zum Achtzigsten“ mit zahlreichen Gastbeiträgen zum Geburtstag des Autors gibt es unter folgender Internetadresse:
www.brinkmann-wildgefleckt.de