Lesen ist viel mehr als ein Lifestyle. Es ist eine Kulturtechnik, wer sie schlecht beherrscht, hat schon beim Kauf eines Bustickets Probleme.
Zum Start der lit.CologneWarum es so wichtig ist, Kindern vorzulesen
YouTube, TikTok, Netflix – die Konkurrenz für das Buch ist groß. Bunt, unterhaltsam, genau passend zu den eigenen Interessen und immer verfügbar, solange Strom da ist. 99 Prozent der Zwölf- bis 13-Jährigen nutzen das Internet, mehr als die Hälfte aller Zehn- bis Elfjährigen haben ein eigenes Smartphone. Das sind Ergebnisse der KIM-Studie (Kinder, Internet, Medien) aus dem Jahr 2022. Eigentlich erstaunlich, dass Kinder und Jugendliche trotzdem noch so viel lesen. Und das tun sie, allen Pisa-Schocks zum Trotz. Seit dem Ende der 1990er Jahre sehe man in den Studien zum Leseverhalten wenig Veränderung, sagt Simone Ehmig, die das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen leitet.
Die Liebe zu Büchern und Digitale Medien müssen sich also nicht ausschließen. Im Gegenteil – gerade Bücher für junge Erwachsene boomen auch dank TikTok. Gut die Hälfte der Kinder lesen laut KIM-Studie mindestens ein- bis mehrmals in der Woche in einem Buch, 14 Prozent davon sogar täglich. Und genauso wenig wie das Leseverhalten verändern sich auch die Favoriten, die die befragten Sechs- bis 13-Jährigen nennen: „Harry Potter“ führt seit Ewigkeiten die Liste an. Außerdem beliebt: „Die Schule der magischen Tiere“, „Gregs Tagebuch“ und „Die schlimmste Klasse der Welt“.
Ein Viertel der Schüler ist nicht in der Lage, den Sinn eines mittellangen Textes zu verstehen
Warum also schneiden die deutschen Schüler und Schülerinnen trotzdem immer schlechter in den Bildungsstudien ab? Inzwischen ist ein Viertel von ihnen kaum in der Lage, auch nur den Sinn eines mittellangen Textes zu verstehen. Diese traurige Bilanz ziehen sowohl die Pisa-Studie bei 15-Jährigen als auch die Iglu-Studie bei Viertklässlern.
Dass die Kinder heute nur noch vorm Handy hängen, anstatt wie früher stundenlang Romane zu lesen diese einfache Interpretation geben die Zahlen nicht her. Offensichtlich ist dagegen, dass es zu wenig Personal in Kindertagesstätten und Schulen gibt. Wenn eine Erzieherin eine ganze Gruppe alleine stemmen muss, bleiben wenig Kapazitäten für gemütliche Vorlesestunden. Und dann gibt es in Deutschland ja auch immer noch die besonders großen Leistungsunterschiede zwischen denen, die aus einem akademisch gebildeten Elternhaus stammen. Und denen, die zu Hause kaum Unterstützung beim Lernen bekommen. Seit Jahrzehnten wird Deutschland in allen Bildungsstudien hier immer wieder ein Problem attestiert. Und seit Jahrzehnten sagen Politiker und Politikerinnen, dass man das dringend ändern müsse.
Solange sich aber im Bildungssystem nichts – oder auf jeden Fall zu wenig – bewegt, nehmen andere die Sache selbst in die Hand. Engagieren sich, um Kindern und Jugendlichen Lust auf Bücher und Lesen zu machen oder ihnen überhaupt erstmal Zugang zu Büchern zu ermöglichen. In Köln ist das zum Beispiel das Junge Literaturhaus oder die lit.kid Cologne, die auch ein großes – und günstiges – Programm für Schulklassen anbietet. Kostenlose Vorlese-Aktionen für Kinder organisiert auch die Initiative „LeseWelten“ der Kölner Freiwilligen Agentur in Kitas, der Bibliothek oder Museen.
Lesehund Rudi gibt Förderunterricht in den Stadtteilbibliotheken Porz und Mülheim
Und auch Albert, Samu, Chicca und Rudi tun, was sie können, um den Kindern das Lesen so leicht und schön wie möglich zu machen. Die vier Hunde sind im Auftrag der Kölner Stadtbibliothek unterwegs – „hundgestützte Leseförderung“ nennt sich ihr Job offiziell. Rudi kommt beispielsweise regelmäßig in die Stadtteilbibliotheken nach Porz und Mülheim: Ein freundlicher, flauschiger ungarischer Hütehund mit hellem Fell und dunklen Knopfaugen. Sein Frauchen heißt Daniela Stolzenburg, die Sozialarbeiterin begleitet die Stunden mit dem „Lesehund“. „Rudi wertet nicht, wenn die Kinder ihm vorlesen“, sagt sie. An diesem Freitag räkelt er sich gemütlich auf einem Teppich in der Mülheimer Bibliothek. Das sieht tatsächlich nicht nach Leistungsdruck aus.
Heute sind alle Kinder zum ersten Mal hier, Rudi hat aber auch eine treue Fan-Base, erzählt Daniela Stolzenburg: „Wir haben eine sogenannte Rudi-Karte. Da kriegt jedes Kind einen Pfötchen-Stempel. Und wenn diese Karte voll ist, bekommt man einen Anstecker mit Rudi drauf. Bei der zweiten einen Schlüsselanhänger. Und jetzt gibt es so treue Kinder, die fast schon die dritte Karte voll haben. Für die müssen wir uns noch etwas überlegen.“
Theo, ein Junge mit dunklem Wuschelhaar, ist zu Beginn noch schüchtern. Der Sechsjährige möchte Rudi nicht vorlesen, nur zugucken und natürlich den Hund streicheln. Auch das ist kein Problem, sagt Daniela Stolzenburg. Antonia ist fast vier Jahre alt und erzählt Rudi einfach, was sie in einem Bilderbuch sieht. Und Lisa liest ihm aus „Ein Kätzchen für Ella“ vor – eines der Bücher, die neben dem Hund auf dem Teppich bereit liegen. Die Sechsjährige wird später höchstwahrscheinlich nicht den Schnitt von Bildungsstudien runterziehen – sie liest jetzt schon total entspannt vor. Ihr zehnjähriger Bruder versteckt sich lieber hinter einem dicken Comic statt mit den anderen auf dem Teppich den Hund zu knuddeln. Gerade liebt er die Mangaserie „Naruto“. Aus der Bibliothek hat er sich schon Nachschub besorgt, erzählt sein Vater: „Die frisst der in kürzester Zeit auf, wenn wir zu Hause sind.“
Oft sind hier Kinder, deren Eltern ohnehin schon sehr engagiert sind, die zu Lesungen gehen oder eben zu Hunde-Stunden in der Bibliothek. Und das sind nicht die, um die sie sich Sorgen macht, sagt Simone Ehmig von der Stiftung Lesen.
Vorlesen prägt fürs Leben - auch über die Durststrecke Pubertät hinaus
„Es gibt einen beträchtlichen Teil von Kindern und Jugendlichen, die nicht in gedruckten Büchern lesen – und zwar völlig unabhängig von digitalen Medien. Und das sind häufiger Kinder, die nicht aufs Gymnasium gehen.“ Sorgen macht sich die Expertin vor allem um alle, die in Umgebungen aufwachsen, die ihnen keinen einfachen Zugang zum Lesen ermöglichen. Und Schule allein könne dieses Problem nicht lösen. Laut Vorlesemonitor 2023 liest mehr als ein Drittel der Eltern ihren Kindern selten oder nie vor. Und das sind hauptsächlich Mütter oder Väter mit formal niedriger Bildung – ziemlich egal ob mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte. Dabei prägt Vorlesen fürs Leben und es lässt Kinder leichter lesen lernen, sagt Simone Ehmig. In der Pubertät erlebten die meisten von uns eine Lese-Flaute. Aber bei Jugendlichen, deren Eltern früh vorlasen, sei dieser Abbruch „weniger krass und weniger nachhaltig“.
„Wir müssen gut im Blick haben, wo es Familien gibt, die Unterstützung brauchen. In Form von Lesestoff, aber auch von digitalen Angeboten, die die Eltern zum Vorlesen animieren“, so Simone Ehmig. Was steckt in so einem Buch drin, wie funktioniert eine Geschichte? Das alles verstehen Kinder spielerisch beim Vorlesen. Und mehr muss es auch gar nicht sein, sagt sie – manche Eltern machten sich Druck, dass ihr Kind beim gemeinsamen Vorlesen schon Buchstaben oder sogar Lesen lernen muss.
Bücher und das Lesen werden bei uns in manchen Kreisen fast religiös verehrt – große Bücherregale bei Instagram zur Schau gestellt und besonders schöne Ausgaben gekauft. Und zwar nicht nur im traditionellen Bildungsbürgertum, sondern auch in der jungen BookTok-Bubble. Absurderweise ist es ausgerechnet diese große Wertschätzung des gedruckten Buches, die das Bild vom Lesen verzerrt. Denn es geht ja um so viel mehr als um schöne Stunden mit einem dicken Wälzer auf dem Sofa. „Warum soll ich lesen und schreiben lernen – ich will ja keinen Roman lesen, und ich will auch keinen schreiben“ – diesen Satz habe sie schon bei ihrer Arbeit gehört, erzählt Simone Ehmig: „Wir müssen aufpassen, worüber wir eigentlich reden.“ Denn Lesen ist kein Lifestyle, sondern eine Grundvoraussetzung, um im Leben gut klarzukommen.
Egal ob Parteiprogramme, Arzttermin oder einfach nur ein Ticket für den Bus: „Bei den Jugendlichen, die noch nicht mal einfache Texte verstehen, gibt es ein großes Risiko, dass sie in jeder Beziehung in ihrer Lebensführung eingeschränkt sind.“ Und wenn es schlecht läuft, belastet sie das auch noch als Erwachsene: „Ungefähr zwölf Prozent der deutschsprechenden Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter haben Lesekompetenzen maximal auf Satzebene – das ist ja quasi die biografische Fortsetzung.“ Und anders, als man vermuten könnte, meiden Erwachsene, die nicht gut lesen und schreiben können, den digitalen Raum in vielen Fällen sogar, berichtet die Kommunikationswissenschaftlerin. Denn auch dort gibt es viel Schrift, mit der sie überfordert sind.
Wir lesen und schreiben mit dem Smartphone so viel wie nie zuvor
Das wird oft übersehen, wenn Lesen und Digitalisierung als Widersprüche stilisiert werden. Dabei tippen und lesen wir mit dem Smartphone so viel wie nie zuvor. „Durch die digitalen Medien lese ich heute mehr als früher“, gaben 28 Prozent bei einer Befragung der Stiftung Lesen und des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2020 an. Nur 17 Prozent waren der Meinung, man bekäme alles Wichtige heute auch auf anderen Wegen mit.
„Es hat eine große Verschiebung gegeben gegenüber einer Zeit, in der die digitalen Medien nicht immer und überall verfügbar waren“, sagt Henning Lobin, Professor für Germanistische Linguistik und Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. „Wir schreiben und lesen oder sprechen Nachrichten und sind dadurch heute viel stärker im Alltag mit diesen kommunikativen Kulturtechniken konfrontiert.“
Die Menge ist das Eine – die Qualität etwas Anderes. Obwohl Henning Lobin kein Kulturpessimist ist, teilt er die Sorgen von Simone Ehmig, wenn es um die Fähigkeit des tiefen, ablenkungsfreien Lesens geht. Denn das sei einfach eine „sehr wichtige Kulturtechnik“. Politische Positionen, wissenschaftliche Inhalte, komplexe Erzählungen, egal ob fiktional oder nicht – „da kommen wir um dieses tiefe Lesen nicht drum herum.“ Natürlich könne man theoretisch auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ auf dem Handy lesen. Oder andere komplexe Abhandlungen, bei denen mehr gefragt ist als schnelles Abscannen. Aber das macht natürlich kaum jemand. Wie auch – wenn man stattdessen kurze, unterhaltsame Texte ohne jede Anstrengung konsumieren kann. Und ständig irgendwelche Bilder, Videos oder Push-Nachrichten aufploppen. „Ich fürchte, dass bei all dem zu wenig Raum für das tiefe Lesen bleibt“, sagt er. Das sei deshalb gefährlich, weil wir dieses Lesen trainieren müssen wie beispielsweise das Joggen. Und jeder, der ein paar Wochen keinen Sport mehr gemacht hat weiß, wie viel schwerer die Bewegung dann fällt.
Was wir dafür benötigen, ist Freiraum, um uns auf einen Text einzulassen. Ohne, dass eine Nachricht plingt oder wir noch nebenbei eine Fernsehserie gucken. „Weil unser Gehirn so konstruiert ist, dass es eine gewisse Ruhe braucht, um sich auf das tiefe Lesen konzentrieren zu können.“ Henning Lobin findet es deswegen wichtig, schon in der Leseerziehung von Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass es solche Lesefreiräume gibt: „Wie schön es ist, sich in die Sofaecke zu kuscheln und sich dort in einer Geschichte verlieren zu können.“
Denn so entscheidend Lesen ist – für die Demokratie und für die Bewältigung des Alltags. Jenseits aller Vernunft ist es auch etwas Besonderes, sich richtig in ein Buch zu vertiefen. Das sehen übrigens auch viele Menschen in der Befragung der Stiftung Lesen mit dem Allensbach-Institut so. Nur neun Prozent finden Lesen anstrengend, 58 Prozent gaben an: Lesen macht Spaß.