Kann ein 58-Jähriger mit alten Rezepten die deutsche ESC-Ehre retten? Porträt eines Getriebenen, der vor allem eines nicht kann: verlieren.
Kann er wirklich den ESC retten?Zurück in die Zukunft: Der Rachefeldzug des Stefan Raab

ARCHIV - 24.09.2017, Bayern, München: Stefan Raab (zu dpa: ´Promis für Merz, Scholz, Habeck: Bringt das was?») Foto: Matthias Balk/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Zwei Stunden hat er bereits aus seinem Leben erzählt, hat gescherzt, aus seiner Autobiografie vorgelesen. Und hat, natürlich, mit samtener Stimme gesungen. Max Mutzke biegt an diesem Januarabend vor 500 Menschen in Hannover bereits auf die Zielgrade einer souveränen Show ein, als aus dem Publikum doch noch diese Frage kommt. Nach Stefan Raab.
Ob denn, möchte eine Zuhörerin wissen, auch der Eurovision Song Contest in seinem Buch vorkomme. Mutzke stutzt kurz. Ja, sagt der 43-Jährige zögerlich. In einem „kurzen Kapitel“ gehe es auch um das Casting bei Raab und um seinen achten Platz beim ESC in Istanbul, der ihn damals, vor gut 20 Jahren, blitzartig vom Schwarzwald ins Scheinwerferlicht spülte. Aber es ruht kein Segen auf dem Thema, das ist zu spüren. „Ich hatte jahrelang diese Stempel auf der Stirn“, sagt Mutzke. „Stefan Raab war ein Stempel, ESC war ein Stempel, Casting war ein Stempel. Ich habe Jahre gebraucht, um mich von diesen Stempeln zu befreien.“
Eine Befreiung aus den Fangarmen von Stefan Raab
Eine Befreiung. So hat er das empfunden. Nicht nur vom ESC, sondern auch aus den Fangarmen des Fernsehberserkers Raab. Und Mutzke ist nicht allein. Auch Lena Meyer-Landrut, ESC-Siegerin von 2010, ist heute überzeugt, dass Raab sie damals überfordert hat. Ja, das habe er, sagte sie vor ein paar Jahren. „Aber das soll keine Schuldzuweisung sein. Mit Sicherheit habe ich damals signalisiert, dass das alles okay ist.“ Es sei aber ein Fehler gewesen, 2011 ein zweites Mal beim ESC anzutreten. „Ich glaube nicht, dass das notwendig war“, sagt Lena. „Es hätte einfach nicht sein müssen.“ Sie sehe Raab noch ab und zu im Job. „Aber nicht privat.“
Und dann, genau sieben Tage nach seinem Auftritt in Hannover, steht Max Mutzke vor ein paar Tagen doch in einem Kölner RTL-Studio, singt live ein Medley von Raabs Eurovisionshits und setzt sich dann als Gastjuror in der ersten Sendung des vierteiligen ESC-Vorentscheids neben den Mann, der so lange ein „Stempel auf seiner Stirn“ war. Mag sein, dass es nicht mit Raab geht. Aber es geht halt – offensichtlich – auch nicht ohne ihn.
Raab ist zurück. Nach fast zehn Jahren Fernsehpause. Wir erleben: ein generalstabsmäßig geplantes Comeback. Und äußerlich ist alles wie damals. Raab boxt gegen Regina Halmich, zum dritten Mal. Raab pokert mit Schützling Elton. Raab feixt, lästert, witzelt. Und Raab will den ESC retten. Mit einem Sieg, natürlich. „Nur daran lasse ich mich messen“, versicherte er bei der Präsentation der ESC-Pläne in der schweizerischen Botschaft in Berlin. „Sie dürfen mich gern beschimpfen, wenn das hier schiefgeht.“
Menschen ohne Ehrgeiz sind Raab suspekt
Da kommt also ein Fernsehfrührentner, der 2015 im genau richtigen Moment mit Tränen in den Augen zu Whitney Houstons „One Moment in Time“ aus dem grellen Licht in den Schatten hinter den Kameras getreten war, und will dem Fernsehen noch einmal zeigen, wie man Fernsehen macht. Nämlich so wie er. Punkt. Es ist ein bisschen so, als kehre 1999, als Raab jung und frisch war, James Last zurück, um dem Land zu zeigen, wie ordentliche Unterhaltungsmusik geht.
Der Sturkopf. Der Berserker. Der Metzger. Der Rüpel. Der Beißer. Der „Besessene“ (Guildo Horn). Der Mensch gewordene Mettigel. 20 Jahre lang haben die Medien nach der präzisen Formel für diesen Raab gekramt. Sie kamen selten weiter als bis zum „ausgekochten Schlitzohr“ („Süddeutsche“), zum „durchgeknallten ADHS-Teenager“ („Spiegel“) oder zum „postmodernen Schlingel“ („Berliner Zeitung“). Dabei ist die Sache im Kern ganz einfach: Hier ist ein Köln-Sülzer Metzgerssohn am Werk, dem Menschen ohne Ehrgeiz schlicht suspekt sind. Raab – ein lebendes Paradoxon: Der Mann mit den falschesten Zähnen hatte immer das echteste Grinsen.
Raab-Deal: „Das Smarteste, was ich in meinem Leben gemacht habe“
RTL-Chefin Inga Leschek ist in fast kindlicher Aufregung fest davon überzeugt, mit dem Comeback des 58-Jährigen einen Coup gelandet zu haben. Der Deal sei „das Smarteste, was ich in meinem Leben gemacht habe“, juchzte sie beim Branchendienst DWDL.de. Und auch Raab selbst ist gewiss der Überzeugung, dass Deutschland ohne die Gnade seiner Mitwirkung im glitzernden ESC-Kosmos verloren ist. In Wahrheit aber ist es eine sehr teure Wette, die RTL da eingegangen ist. Angeblich hat der mehrjährige Exklusivvertrag mit Raab ein Volumen von bis zu 90 Millionen Euro. Ist Raabs Näschen das noch wert?
„Ich bezweifle, dass das funktioniert“, sagt einer, der gar nicht gut auf den Mann zu sprechen ist: Oliver Pocher. „Meine Voraussage dazu ist, dass es Raab in einem Jahr nicht mehr bei RTL geben wird“, sagte er zur „Bild“-Zeitung. „Irgendwann wird jemand, der bei Bertelsmann nichts mit Entertainment, sondern mit dem Taschenrechner zu tun hat, zwei Fragen stellen. Was hat’s gekostet? Wie viel haben wir damit verdient? Und dann wird’s beerdigt.“
Oliver Pocher vermutet bei Stefan Raab „Zerstörungswut“
Pocher ist noch so einer, der mit Raab einst gut konnte. Und dann – aus unbekannten Gründen – nicht mehr. Beim Raab-Halmich-Boxkampf im September 2024 hatte er Hausverbot. Umso herzhafter stichelt er nun. „Ich habe den Eindruck, dass Stefan das nicht aus Leidenschaft, sondern aus purer Zerstörungswut gemacht hat“, sagt Pocher. „Es geht gegen seinen alten Sender ProSieben, gegen seine alte Produktionsfirma, es geht gegen seine alte Show ‚tv total‘. Er wirkt wie besessen davon, denen zu schaden.“ Pochers Theorie hat mehrere Anhänger. „Raab befindet sich auf einer Vendetta“, sagt noch jemand, der sich auskennt hinter den TV-Kulissen.
Ein Rachefeldzug? Rückblick: Raab und RTL waren – wie Raab und „Bild“ – einst tief verfeindet. „Möööp“, machte Lena 2010 in Oslo, als RTL-Reporter ihr Privates entlocken wollten. Bei ProSieben und seiner Hausfirma Brainpool hingegen war Raab faktisch Alleinherrscher mit Carte Blanche. Doch nach seiner On-Air-Karriere löste er sich von Brainpool, verkaufte 2018 seinen Restanteil von 12,5 Prozent gegen den Willen seiner früheren Buddies an den französischen Konzern Banijay, der dadurch mit 62,5 Prozent zum Mehrheitseigner wurde – und die alte Brainpool-Führung um Gründer Jörg Grabosch umgehend abberief.
Die Folge: Gerichtsstreit, Frust, menschliche Enttäuschungen. Raab gewann zwar die Hoheit über die Brainpool-Tochtergesellschaft Raab TV zurück, verlor aber die Rechte an mehreren TV-Marken wie „tv total“, „Schlag den Star“ oder „Wok-WM“, außerdem an gut 4000 Stunden Raab-Archivmaterial, darunter 2243 Ausgaben von „tv total“, jener TV-Müllverbrennungsanlage, die von 1999 bis 2015 bei ProSieben die Keimzelle seines TV-Imperiums war.
ProSieben wiederum hatte zuvor bereits mit Raabs Segen „tv total“ mit Sebastian Puffpaff reanimiert, den Raab selbst noch für würdig befunden hatte, sein Erbe anzutreten. Nun wurde er zum Gegner. Raab schlug zurück: Er kombinierte Elemente aus „tv total“ und „Schlag den Raab“ in seiner neuen Show „Du gewinnst hier nicht die Million“, die zunächst auf dem Streamingportal RTL+ lief, inzwischen aber auch im linearen RTL-Programm zu sehen ist. Und zwar mittwochs. Um 20.15 Uhr. Also auf demselben Sendeplatz wie Puffpaffs „tv total“.
Schmerzhafter Bruch mit Brainpool und ProSieben
Eine Kampfansage. ProSieben verschob Puffpaff umgehend auf Dienstag. Raabs erste Quote „im richtigen Fernsehen“ (Raab) war freilich unspektakulär: 1,59 Millionen Menschen (6,6 Prozent Marktanteil) sahen zu. Doch die Sendeplatzsticheleien gehen weiter. Am 15. März kommt es zum nächsten Duell – dann treten Raab und Michael „Bully“ Herbig mit ihrer neuen RTL-Samstagabendshow „Stefan und Bulli gegen irgendson Schnulli“ direkt gegen „Schlag den Star“ auf ProSieben an.
Es war ein schmerzhafter Bruch zwischen ProSieben und ihm. Spätestens, als Raabs Langzeit-Buddy Elton nach 23 Jahren unfein bei ProSieben geschasst wurde, weil auch er allzu intensiv mit RTL geflirtet hatte, dürfte bei Raab der letzte Funke Loyalität zu seinem alten Heimatsender erloschen sein, über den er einst keck (und zu Recht) sagte: „Ralph Siegel hat nur ein Klavier. Ich habe einen ganzen Sender!“
Raab gelang es dann, die ARD und RTL zu einer ESC-Kooperation zu überreden, von der sich alle Beteiligten nicht weniger erhoffen als eine Wiederholung des Lena-Triumphs. Für den NDR ist der Song Contest am 17. Mai in Basel der vorerst letzte ESC. Die Verantwortung innerhalb der ARD wandert ab 2026 zum SWR. Zuletzt war Deutschland viermal Letzter und dreimal Vorletzter. Nur Michael Schulte (Platz vier, 2018) und Isaak Guderian (Platz zwölf, 2024) ragen aus der Elendsbilanz heraus.
Taugen Raabs Rezepte noch für den ESC?
Angesichts der Pleiteserie blühten in der Eurovisions-Community seit Jahren Sehnsuchtsfantasien von einer Raab-Rückkehr. „Ich habe keine Lust, Zweiter zu werden“, sagt er selbst. „Zweiter ist immer der erste Verlierer, so ist es leider.“ Es ist der gleiche Ehrgeiz, mit dem der Mann einst in „Schlag den Raab“ im Gokart um Heuballen kajolte. Doch so ehrlich muss man sein: Nicht einmal die Beharrungskraft von Stefan Raab kann erzwingen, dass das Spaßfernsehen für alle Zeiten nach denselben Maßstäben funktioniert. Seine größten Erfolge feierte er in einer anderen Fernsehwelt.
Seine Karriere war ein heißer Ritt. Der Rückblick im Schnelldurchlauf: 1993 „Vivasion“, damals noch mit Skilehrerfrisur. Dann „Hier kommt die Maus“, „Bööörti Bööörti Vogts“, Alf Igel. Guildo Horn. „Raab in Gefahr“ (mit dem Led-Zeppelin-Gitarrenriff). Die „Raabigramme“ mit Ukulele. Die erste Wok-WM. Autoball. Max Mutzke. Lena. Das Rockabilly-Opening beim Heim-ESC 2011. „Blamieren oder Kassieren“. „Schlag den Raab“. Das war schon sehr witzig, damals („Herr Nowitzki – oder darf ich Diba-diba-du zu dir sagen?“). Lange her.
Raab war der unkaputtbare Gute-Nacht-Onkel einer ganzen Zuschauergeneration. Und die letzte Rampensau, die noch ins Risiko ging – bis hin zur gebrochenen Nase. Nicht dem Gemeinwohl galt sein Interesse, sondern seinem persönlichen Vergnügen. Sein Glück, dass beides oft deckungsgleich war. Damals.
Nein, nicht jede seiner Ideen war ein Knaller (Quizboxen? Ernsthaft?). Als Produzent hinter den Kulissen war er weniger erfolgreich als als Frontmann. Sein „Höhle der Löwen“-Nachbau „Das Ding des Jahres“ floppte. Sein tägliches „EM-Studio“ für RTL ebenfalls. Hinzu kam: Nicht jedes seiner „Opfer“ war ein medienerfahrener Profi. Nicht jeder Kollege ist gut auf ihn zu sprechen („Das US-Militär hat eine ewig haltbare Pizza entwickelt, oder wie wir sagen: Uschi Glas.“).
Er hat es heftig um die Ohren bekommen von den Feuilletons, die bei Raab die bildungsbürgerliche Doppelbödigkeit eines Harald Schmidt vermissten. Schon 1999 schrieben die Zeitungen, der Typ sei „früher mal ein verwegener Kerl“ gewesen. So ist das Geschäft. Ihm war es immer herzlich egal.
Heimlicher Sieger des Kanzlerduells 2013
Als heimlicher Sieger des Fernseh-Kanzlerduells vor der Bundestagswahl 2013 („King of Kotelett“) hat der domestizierte Bürgerschreck dann aufblitzen lassen, dass er auch seriös gekonnt hätte. Dass ihm auch Anzug steht, sogar besser als die olle Beuteljeans. Das politisch-mediale Establishment war entsetzt! Aber es log sich schon damals in die Tasche, wenn es meinte, erst Raab betreibe die Entertainisierung der Politik.
In Wahrheit hatte sich die politische Inszenierung längst den Gesetzmäßigkeiten der Unterhaltung unterworfen. Das begann in den Neunzigern, als Jürgen Möllemann mit Franziska van Almsick huckepack durchs ZDF hopste, und setzte sich in den Nullerjahren fort, als Spaßkanzler Gerhard Schröder bei Thomas Gottschalk und Guido Westerwelle im „Big Brother“-Container den Jungwählern nachjagte. Heute gilt in der Politik erst recht: Du sollst nicht langweilen.
Überraschend früh verstanden hat das ausgerechnet CSU-Veteran Edmund Stoiber, selbst eher ein unfreiwilliger Komiker („Zehn Minuten! Sie steigen in den Hauptbahnhof ein ...“). Stoiber hatte – als damaliger Vorsitzender des ProSiebenSat.1-Beirats – Raab ins Gespräch gebracht als Mitmoderator der Kanzlerkandidatenrunde. Vordergründig, um Jungwähler zu locken. Hintergründig wohl auch, um Rivalin Merkel eins auszuwischen. Das gelang.
Auch mit der Polittalkshow „Absolute Mehrheit“ hat Raab dann an der Tür zum erwachsenen Fach gekratzt. Was haben sich wieder alle aufgeregt! Raab und Politik? Ist das nicht wie Gangsta-Rap und Gänseblümchen? Wie Mettbrötchen mit Marmelade? Na und? Millionen junge Zuschauer guckten Politik. Wer schaffte das damals sonst? Das Publikum entschied per SMS und Hotline quasi live, wem seine Sympathien gehörten. ARD-Chefredakteur Thomas Baumann nölte, Raabs Konzept sei „abwegig“. Die Irritation des politischen Berlin war Balsam für den professionellen Provokateur: „Wenn die ARD es scheiße findet, heißt das, dass die Sendung der absolute Kracher wird.“ Das wurde sie dann aber doch nicht.
Ein „magischer Moment“ mit Lena
Und der ESC? Raabs Verdienste als deutscher Eurovisionsretter und -seelsorger sind unbestritten. Alle Beiträge unter seiner Mitwirkung erreichten die Top Ten: Platz sieben gab es 1998 für Guildo Horn mit Raab als Dirigent, Platz fünf dann im Jahr 2000 mit ihm selbst in funkelndem Elvis-Kostüm („Wadde Hadde Dudde Da“). 2004 in Istanbul holte Mutzke dann Platz acht, ebenso wie Roman Lob, ein weiterer Raab-Casting-Zögling, 2012 in Aserbaidschan. Die Sternstunde 2010: Platz eins für Lena. Raab im Zenit. Mettbrötchen für Millionen. 40 000 Menschen feiern ihn und Lena in Hannover.
Zweimal hat er im Winter 2009 in seinem Büro in der Kölner Schanzenstraße das Video angesehen, auf dem Lena mit der Nummer 05053 auf der Brust ihr Lied sang („Aii, aii! You said I’m stubborn and I never give in …“). Dann wusste er, dass er seinen ESC-Star gefunden hatte. Damals, als die mit dem Contest überforderte ARD ihn bat, „Ödland aufzuarbeiten“, wie er das damals nannte. „Das war so ein magischer Moment“, hat er später erzählt. „Sie steht da, ganz allein, und dann fängt sie an zu singen: ‚Aii, aii …‘“ Der Rest: Geschichte.
Raab hatte immer ein feines Gespür für das, was im Entertainment funktioniert. Und er hatte die Gabe, eine nationale Erregungswelle auszulösen. Max Mutzke erlebte die Macht dieser Welle damals nicht ohne Irritation. „Mein Name war überall im Schwarzwald“, erinnert er sich an diese irren Wochen, in denen er durch ein Casting innerhalb von „tv total“ blitzartig vom Hobbysänger zur deutschen ESC-Hoffnung wurde. „Orte wurden in Maxingen umbenannt“, erinnert er sich. „Es gab Max-Bier, Max-Pizza beim Italiener, es war unvorstellbar. So etwas hatte es im Schwarzwald noch nicht gegeben – dass einer von uns im Fernsehen war.“
Aber: „Beim ESC gewesen zu sein, ist noch lange keine Garantie für eine erfolgreiche Karriere“, sagt er. „Im Gegenteil.“ Natürlich verdanke er dem ESC viel. „Aber er spielt keine Rolle mehr in meinem Leben.“ Für Mutzke war der achte Platz mit Raabs Midtempo-Komposition „Can’t Wait Until Tonight“ damals eine Enttäuschung. „Ich hatte vorher alles abgeräumt und bin auch mit der Erwartung da hingefahren, zu gewinnen. Es kam dann anders.“ Kein Zweifel, dass Raab diese Hoffnung intensiv geschürt hat.
Raabs eigene Enttäuschung mündete in eine Idee: Nachts um 1.40 Uhr stand er nach dem ESC-Finale 2004 neben einer türkischen Mehrzweckhalle, umwuselt von ProSieben-Hipstern, und trank Cola aus der Dose. Übernächtigt sah er aus, abgekämpft, die Augen winzig klein. Im Hintergrund herzte Komikerin Annette Frier Mutzke. Achter? Das konnte Raab nicht genügen, der das Siegenwollen zur Maxime seiner Karriere gemacht hat. Er biss die Zähne zusammen. Mund abputzen, weitermachen. Und noch bevor die Sonne am Bosporus aufgeht, wurde in dieser Nacht bei der After-Show-Party des Teams der Plan für den Bundesvision Song Contest geboren: 16 Bundesländer, 16 Kandidaten, Abstimmung wie gewohnt. Ein typischer Raab-Reflex, damals: Dann machen wir’s eben selbst.
Mancher Gag wirkt wie aus der Zeit gefallen
Heute aber gibt es drei Probleme. Erstens ist ihm Lena damals wie Sterntalers Silbermünzen in den Schoss geplumpst. Zweitens ist der ESC längst kein unbekümmerter Spaßkarneval mehr, sondern ein Mix aus halbpolitischer Materialschlacht und global orientierter Popleistungsschau. Und drittens hat sich der Planet, seit Raab sein Amt als oberster Beömmelungsbeauftragter der Bundesrepublik abgab, weitergedreht. Der sorglose Hedonismus der Nullerjahre ist einer nervösen Empfindsamkeit gewichen, in der Raabs „Pulleralarm“-Gefrotzel und mancher Gag wie aus der Zeit gefallen wirken.
Schon der Halmich-Boxkampf mit zerbeultem Oberkörper und unzerbeultem Ego war eine ziemlich muffige Idee. Ein Mann boxt gegen eine Frau. Und alle so: yeah … Die Generation Z dürfte müde die Augenlider gehoben und gedacht haben: Stefan wer? Was will der alte Mann? Und warum boxt der noch mal gegen eine Frau?
Privat sucht Raab weiterhin die Ruhe, verteidigt den Backstagebereich seines Lebens mit Akribie. Ein Familienmensch und Mehrfachvater, der verheiratet in einer Kölner Villa lebt. Gewohnheitstier, Tüftler, Lokalpatriot, FC-Köln-Fan. Kein Partylöwe. Dienstlich aber kämpft er. „Es gibt nur eine Sünde: Feigheit“, hat er mal auf die Wok-WM-Jacken seines Teams sticken lassen. Raab auf Rachefeldzug.
Er kann nicht anders. Er ist so. Ein Mann, der Musik auch als Sport begreift – genau wie Ralph Siegel. Wie über Raabs Musikstil aber, diesen glatten, funkigen Synthiepop, könnte auch über seinen TV-Stil die Zeit hinweggeweht sein. Vielleicht war die Pause zu lang. Das Massenpublikum sucht – bei aller Neigung zu aggressiven Reality-Trash-Formaten – heute etwas anderes im linearen Fernsehen. Etwas Wärmeres. Und eben: etwas Neues.