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Kommentar

Grenzkontrollen
Helmut Schmidt und Helmut Kohl wären entsetzt

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Lesezeit 6 Minuten
Die Bundespolizei kontrolliert einen Pkw am Grenzübergang bei Bad Bentheim, Niedersachsen. Deutschland hat seine bereits laufenden Grenzkontrollen im Osten und Süden des Landes wie angekündigt auf die Landgrenze im Westen ausgeweitet.

Die Bundespolizei kontrolliert einen Pkw am Grenzübergang bei Bad Bentheim in Niedersachsen. (Archivfoto)

Vielen Deutschen erscheint der geschlossene Schlagbaum plötzlich als etwas Schönes. Macht Deutschland jetzt auch intellektuell dicht?

Kleine Quizfrage: Wie viele Grenzen zu anderen Staaten hat Deutschland? Die richtige Antwort lautet: neun. An Deutschland grenzen Dänemark, Polen, Tschechien, Österreich, die Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande.

Zusatzfrage: Gibt es in Europa Staaten mit genauso vielen oder gar mehr unmittelbaren Nachbarn? Richtige Antwort: nein.

Offene Grenzen entsprechen nationalem Interesse

Eine Rückbesinnung auf diese Unabänderlichkeiten wäre nützlich. Sie könnte den Deutschen helfen, in diesen aufgeregten Zeiten nicht den Kompass zu verlieren.

Mehr als alle anderen EU-Staaten profitiert Deutschland von offenen Grenzen innerhalb der EU. Es mag kurios klingen, ist aber wahr: Das alltägliche, lässige Übersteigen des Nationalen durch möglichst viele Europäerinnen und Europäer entspricht unserem nationalen Interesse. Mit dieser Perspektive muss auch über illegale Zuwanderung diskutiert werden: Deutschland braucht ein Europa, das die Außengrenzen besser sichert, statt in seinem Inneren neue Hürden hochzuziehen.

Um die dazu nötige neue Kooperation allerdings muss Deutschland sich aktiv kümmern. In Europa, das haben die vergangenen Jahrzehnte gezeigt, ergibt sich nichts von selbst. Zahlreiche beeindruckende Integrationsschritte zeigen aber auch: Nichts ist unmöglich.

Spontaner Applaus für rückwärtsgewandte Gedanken

Liegt es an Solingen, an Thüringen, an Sachsen? Mit einem sonderbar verengten Blick haben viele Deutsche in den vergangenen Tagen einer Rückkehr zu Grenzkontrollen Applaus gespendet. Ein rückwärtsgewandter, wahrhaft törichter Gedanke hält Einzug in viele Hinterköpfe: Wenn wir uns als Deutsche nur hinreichend abschotten gegenüber dem Rest Europas, wird alles gut.

Als simpler Reflex ist das psychologisch erklärbar. Als strategische Ausrichtung für die Zukunft aber ist eine Politik des deutschen Dichtmachens innerhalb Europas nicht nur untauglich, sondern brandgefährlich.

Berlin muss aufpassen. Denn die Turbulenzen der jetzt eskalierenden Asyldebatte treffen das einst ruhig und stolz dahinziehende Großraumflugzeug EU in einem prekären Moment. Politische Führungskrisen in Berlin und Paris lassen die beiden Triebwerke, auf die bislang noch immer Verlass war, bedenklich qualmen.

„Selbstverzwergung“ in Berlin und Paris

Als mächtige gestaltende Kraft, europaweit gar, fällt der deutsche Kanzler inzwischen ebenso aus wie der französische Präsident. Sollte sich bei der Landtagswahl in Brandenburg die AfD vor die SPD schieben, ist ungewiss, wie lange sich Olaf Scholz in Berlin noch im Sattel hält. Emmanuel Macron darf bei der nächsten Präsidentschaftswahl ohnehin nicht mehr antreten. Zudem hat er keine Mehrheit mehr in der Nationalversammlung.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) setzt seine Sommerreise als Potsdamer Bundestagsabgeordneter in Brandenburg fort und trifft sich zum Bürgerdialog in Niedergörsdorf.

Schwache Umfragedaten, wenig Zustrom: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, hier aufgenommen bei einem Termin in Brandenburg am 20. September.

Angesichts dieser Ausfallerscheinungen in Berlin und Paris stellt sich die Frage: Wer setzt in Europa jetzt noch Ziele?

Im Juli dieses Jahres wählte das Europäische Parlament Ursula von der Leyen für weitere fünf Jahre zur Kommissionspräsidentin. Doch die Deutsche fühlt sich in ihrem Büro im 13. Stock des Brüsseler Barlaymont-Gebäudes inzwischen politisch mehr denn je alleingelassen. Wer kämpft an ihrer Seite? Diverse Zukunftspläne hat von der Leyen zwar durchaus vor sich. Doch wenn die Pilotin hinter sich blickt, stellt sie fest: Die Nationalstaaten liefern keinen Schub.

Besonders apathisch wirkt in diesen Tagen ausgerechnet Europas größte Wirtschaftsmacht, Deutschland. Mit der deutschen Regierung, heißt es in Führungskreisen der EU-Kommission in Brüssel, könne man über Pläne zur Zukunft Europas „derzeit leider gar nicht mehr vernünftig reden“. Wie zuvor schon in anderen Hauptstädten dominiere nun auch in Berlin das Nationale. Von einer europapolitischen „Selbstverzwergung“ ist die Rede.

Eine große Demonstration gegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Demonstration gegen Emmanuel Macron: Bei diesem Marsch am 21. September wurde eine Amtsenthebung des französischen Präsidenten gefordert.

Jüngstes Beispiel: In ganz Europa diskutieren Regierende, Oppositionelle und Medien derzeit über den Draghi-Report. In ganz Europa? Nein. In Deutschland hat kaum jemand mitbekommen, was der Draghi-Report überhaupt ist. Denn im Land der großen Europäer Helmut Schmidt und Helmut Kohl sind, wenn es um Europa geht, neuerdings auch die sogenannten Eliten uninformiert und desinteressiert wie noch nie.

Europas nächster großer Schritt

Mario Draghi, 77, war bis zum Jahr 2019 Chef der Europäischen Zentralbank. Der Italiener ist ein weltweit renommierter Ökonom, seinen Doktortitel erwarb er einst am Massachusetts Institute of Technology in den USA. Seit der Euro-Rettung hat Draghi nicht nur in Fachkreisen, sondern auch unter Regierungschefs in aller Welt einen Ruf wie Donnerhall.

Draghi gibt jetzt Antworten auf eine Frage, die der Alte Kontinent seit Langem vor sich herschiebt: Was genau müsste Europa tun, um nicht schon bald von den USA und von China ein für allemal ökonomisch abgehängt zu werden? Von der Leyen hatte Dra­ghi beauftragt, dazu mit einem Kreis von Experten eine umfassende Analyse zu erarbeiten, kombiniert mit konkreten Vorschlägen zu einem wirtschaftlichen Neustart Europas.

Der ehemalige italienische Premierminister und Ökonom Mario Draghi und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentieren einen Bericht zum wirtschaftlichen Stand Europas und einer möglichen Neuorientierung. (Photo by Nicolas TUCAT / AFP)

Wer guckt noch hin, wer hört noch zu, wenn weitreichende Pläne für Europa als Ganzes vorgestellt werden? Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, am 9. September in Brüssel. (Archivfoto)

Am 9. September wurde der Draghi-Report in Brüssel vorgestellt. Auf knapp 400 Seiten wird darin so etwas beschrieben wie der nächste große Schritt für Europa. Draghi verlangt, grob gesagt, dass nach Schaffung des Binnenmarkts in den Achtzigern und nach Einführung der gemeinsamen Währung in den Neunzigern abermals ein Ruck durch Europa geht. Die 27 Staaten sollen auf intelligente Art noch enger zusammenrücken, um zukunftstauglich zu werden fürs 21. Jahrhundert.

Lob für Draghi von Athen bis London

Draghi sieht in seinen Empfehlungen nicht irgendeinen Tipp, sondern etwas Zwingendes: „Für Europa geht es jetzt um eine Überlebensfrage.“ Draghis Diagnose ist schonungslos, seine Arznei stark.

Mit 880 Milliarden Euro will Draghi die „Innovationslücke gegenüber den USA und China bei Schlüsseltechnologien“ schließen – das wäre eine massivere Förderung als durch den Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg. Dem früheren EZB-Chef schwebt ein Mix aus öffentlichen und privaten Investitionen vor. Da alles auf mehr Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft ziele, nicht auf mehr Konsum in der Gegenwart, sei dazu die Aufnahme gemeinsamer Schulden in der EU gerechtfertigt. Start-ups sollen sich endlich nach europaweit einheitlichen Regeln Kapital besorgen können. Die dazu nötige Kapitalmarktunion stockt seit Langem wegen nationalen Eigensinns in vielen Staaten. Hightechfirmen sollen durch eine Deregulierungsoffensive neuen Schwung bekommen.

Fachleute innerhalb und außerhalb der EU sind beeindruckt. Draghis Plan sei „erfrischend unverblümt“, urteilt die Londoner Zeitung „Financial Times“. Der Italiener habe „ein Überlebenshandbuch für die EU geschrieben“, lobt die liberalkonservative Zeitung „Ekatheremi“ aus Athen. Sander Tordoir, Chefökonom der renommierten Denkfabrik Centre for European Reform, sieht in Draghis Schrift etwas Historisches: Sie verbinde Pläne von Jean Monnet (Verteidigungsintegration) und Jacques Delors (Binnenmarkt) mit Bidenomics (Clean Tech plus Resilienz).

Zu den wenigen Deutschen, die sich auf Draghi eingelassen haben und den Daumen begeistert nach oben drehen, gehört Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Fratzscher findet Draghi sogar alternativlos: Eine europäische Politik, die Deindustrialisierung verhindern wolle, müsse endlich ihre nationalen Scheuklappen ablegen. Allzu lange schon hätten deutsche Regierungen „eine systematische Stärkung Europas“ abgelehnt.

Ursula von der Leyen (CDU, l), Präsidentin der Europäischen Kommission, steht im Vorfeld der Konferenz der Präsidenten im Gebäude des Europäischen Parlaments und spricht mit Valerie Hayer (France Renaissance), Fraktionsvorsitzende der Renew-Fraktion.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren“: Zu den Unterstützern des Draghi-Reports im Europäischen Parlament gehört die französische Liberale Valérie Hayer, Chefin der Fraktion Renew Europe. (Archivfoto)

„Der Draghi-Report ist ein Weckruf für ganz Europa“, jubelt Valérie Hayer, Chefin der Fraktion Renew Europe im Europaparlament. Die 38 Jahre alte Liberale aus Frankreich würde lieber heute als morgen loslegen mit der Umsetzung: „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Berlin drückt eiskalt auf die Bremse

Von der deutschen Bundesregierung dagegen kamen Kommentar wie kurzer, heiserer Husten. Finanzminister Christian Lindner (45), ebenfalls ein Liberaler, erklärte: „Mit einer gemeinsamen EU-Schuldenaufnahme lösen wir keine strukturellen Probleme.“

Der Draghi-Report wurde am Tag seiner Vorstellung in Brüssel auch bei der Bundespressekonferenz in Berlin zur Sprache gebracht – erst als Thema Nummer 14 und auch dies nur mit auffallender Einsilbigkeit. Der Bericht werde jetzt „erst einmal gründlich ausgewertet“, verkündete Steffen Hebestreit, der Sprecher von Bundeskanzler Scholz. Fast hörte es sich an, als sei da draußen irgendwo ein Alien gelandet.

Woher kommt so viel Kälte? Liegt es etwa am Druck, den antieuropäische Kräfte mittlerweile in Deutschland entfalten? Steckt den Berlinern noch die Selbsttraumatisierung von 2023 in den Knochen, als ihnen vor dem Bundesverfassungsgericht ein grundgesetzwidrig aufgestellter Haushalt um die Ohren flog?

Deutschlands Regierende jedenfalls machen es derzeit wie die Regierten: Sie konzentrieren sich aufs Nationale. Davon allerdings wird nichts besser, weder in Deutschland noch in Europa.