Die EU-Kommissionschefin besucht Lampedusa, weil Italien Lösungen zur Migration verlangt. In Deutschland melden Städte Überlastung. Es herrscht Ratlosigkeit.
Kommentar zu MigrationWille zur Flucht nach Europa wächst – und ein Ende ist nicht in Sicht
Wir schaffen das. Gut acht Jahre ist es jetzt her, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit diesem Satz die Deutschen aufrief und ermutigte, sich vom Leid der Kriegsflüchtlinge, seinerzeit vor allem aus Syrien, nicht abzuwenden. Und bei aller Aufregung und Spaltung, die der Satz und die Flüchtlingskrise 2015 und 2016 ausgelöst haben, kann man heute wohl sagen: Wir haben es tatsächlich geschafft. Vielmehr: Wir hätten es fast geschafft.
Leider hat sich die Hoffnung, die die Wohlmeinenden hegten, nicht bestätigt: dass der Ansturm auf Europa nachlassen würde, sobald der Krieg in Syrien endet. Dass es dann um die Integration der Angekommenen ginge, um bessere, klare Regeln für die Geflüchteten – bei Abschiebungen, aber auch beim „Spurwechsel“ vom Asylsuchenden zur Arbeitskraft.
Heute ist die Stimmung eine andere. Der Zustrom aus den Kriegs- und Armutsregionen reißt nicht ab – und die Verantwortlichen in der EU, in Europas Hauptstädten, in den deutschen Bundesländern und in den Gemeinden spüren, dass sich erneut etwas zusammenbraut.
Meloni droht, die Marine gegen Fluchtboote einzusetzen
Italiens Regierungschefin Meloni hat angesichts der Überlastung durch Neuankömmlinge auf der Mittelmeerinsel Lampedusa mit drastischen Schritten gedroht, wie dem Einsatz der Marine gegen Migrantenboote. Zu Recht hat EU-Kommissionschefin von der Leyen erkannt, dass da gerade ein neues Problem für die EU Schritt für Schritt eskaliert – und sich von Meloni nach Lampedua zitieren lassen, um ihr mehr Überwachung des Mittelmeers durch europäische Grenzschützer zu versprechen. Das mag Meloni innenpolitisch kurzfristig helfen – eine Lösung für das eigentliche Problem ist es nicht.
In Deutschland klagen derweil, in weniger dramatischen Tönen, die Städte und Gemeinden seit Monaten, dass sie vom Zuzug überlastet sind. Es ist kein Zufall, dass die nun ausgerechnet die Wahlkämpfer Markus Söder und Nancy Faeser Verschärfungen ihrer Asylpolitik ankündigen. Denn der Druck von Rechts wächst, die AfD mit ihren simplen Scheinlösungen weckt bei vielen Wählern den Eindruck, sich immerhin für das Thema zu interessieren.
Am bittersten ist aber, dass es so wenig seriöse Lösungsvorschläge gibt. Der Unterschied zu 2015/16 ist die fehlende Hoffnung. Damals setzte man auf eine „europäische Lösung, auf EU-Verteilschlüssel, auf Flüchtlingsabkommen und ein baldiges Kriegsende. Daran glaubt heute niemand mehr.
Syrien ist immer noch nicht stabilisiert, dafür hat der Ukraine-Krieg eine neue Flüchtlingswelle ausgelöst. Die Brutalität von Regimen wie in Afghanistan und Iran hat sich seit 2015 verschlimmert. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass Menschen nicht nur vor Krieg und Verfolgung fliehen, sondern auch aus Armut und Perspektivlosigkeit, die durch immer mehr Naturkatastrophen verschlimmert werden.
Selbst, wer die humanistischen Werte hochhebt, wird das Gefühl nicht los, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Jeder Verteilschlüssel scheitert, wenn der Zustrom nicht abebbt - spätestens, wenn die Wähler der Politik einen anderen Asylkurs vorschreiben. Das Beispiel Italien zeigt zugleich, dass selbst eine Regierung mit flüchtlingsfeindlicher Agenda am Ende machtlos ist. Wenn Georgia Meloni droht, mit Gewalt gegen Migranten vorzugehen, und Ursula von der Leyen das mit mehr Abwehr durch die EU-Grenzschützer abwendet, ist die EU einer strukturellen Lösung keinen Schritt nähergekommen.
Zu wenig Einsatz im Kampf gegen Fluchtursachen
Auch aus den aktuellen Plänen von Bayerns Ministerpräsident Söder und von Bundesinnenministerin Faeser spricht vor allem Ratlosigkeit. Faeser will schnellere Abschiebungen ermöglichen – als hätten sich daran nicht schon etliche ihrer Vorgänger die Zähne ausgebissen. Und Söder singt das alte Lied von Sachleistungen statt Bargeld für Asylbewerber – obwohl das schon früher aufgegeben wurde, weil die Umsetzung schlicht zu teurer war. Zudem muss man sich nur die Bilder aus den Katastrophengebieten in Libyen oder Marokko ansehen, um zu erkennen, dass die Fluchtgründe oft schwerer wiegen als die Abschreckungsversuche mit Chipkarten oder Straßenkehrerjobs.
Was all diese Ideen eint: Sie zielen auf Symptome, nicht auf Ursachen. Sie hängen der Vorstellung nach, dass mit der Abwehr und Rückführung von Migranten zwar nicht deren Probleme gelöst sind – aber wenigstens unsere.
Doch das ist ein Trugschluss. Wenn jenseits von Mauern und Marinegeschossen die Armut weiterwächst; wenn Klimawandel, Kriege und Gewaltherrschaft zu Instabilität und Vertreibung führen, werden wir auch innerhalb der Festung Europa nicht in Frieden leben.
Es ist traurig, dass die Politik seit Jahrzehnten sehr viel streitet, wie sich Migranten fernhalten lassen, aber sehr wenig über die versprochene Bekämpfung der Fluchtursachen. Was inzwischen immerhin klar ist: Zu einer Lösung muss der reiche Norden genauso beitragen wie die ebenfalls reichen Golfstaaten, die aufstrebenden Wirtschaftsmächte und die betroffenen Herkunftsländer. Eine größere Herausforderung ist also kaum vorstellbar.