Aiwangers Erklärungen zum antisemitischen Flugblatt sind zweifelhaft. Aber auch sonst ist der Politiker für ein Regierungsamt ungeeignet.
Kommentar zu Söders VizeAiwanger ist längst nicht mehr über jeden Zweifel erhaben
In Bayern geschah am Dienstag das Erwartbare. Ministerpräsident Markus Söder tadelte seinen Stellvertreter Hubert Aiwanger. Auch verlangte er mehr Aufklärung über ein ekelhaftes antisemitisches Flugblatt, dass dieser als 17-jähriger Schüler vermutlich verteilt hat, aber nicht geschrieben haben will. Doch der CSU-Politiker tadelte den Chef der Freien Wähler nur etwas. Die Forderung nach Aufklärung war nicht allzu scharf. Söder braucht Aiwanger zum Regieren, heute und über den Tag der bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober hinaus.
Söder agiert also eher machttaktisch, so wie die Oppositionsparteien im bayerischen Landtag in Teilen machttaktisch agieren. Während er das Bündnis mit den Freien Wählern fortführen will, wollen sie es sprengen – nicht zuletzt, um ihre eigenen Chancen beim bevorstehenden Urnengang zu erhöhen. Alle beklagenswert parteipolitischen Motive ändern trotzdem nichts daran, dass dieser Hubert Aiwanger für ein Regierungsamt längst ungeeignet geworden ist.
In allerletzter Minute den Bruder ins Spiel gebracht
Dies hat mit dem Skandal selbst zu tun. Das Flugblatt, das mit einem „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ winkt, geht nicht auf einen übermütigen Pennäler zurück, sondern auf einen Überzeugungstäter, als den nicht wenige Aiwanger aus der Schulzeit in Erinnerung haben.
Das macht die Last-minute-Behauptung, sein Bruder Helmut sei der Urheber gewesen, prinzipiell wenig glaubhaft – umso mehr, weil sich das Flugblatt in Hubert Aiwangers Schultasche befand und er erklärte, sich zur Strafe seinerzeit „nur ‚unter Druck‘“ mit dem Nationalsozialismus befasst zu haben. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, spricht angesichts dessen zurecht von einer „fragwürdigen Geisteshaltung“.
Überhaupt stellt sich die Frage, warum Hubert Aiwanger die Urheberschaft damals auf sich nahm und warum er den ganzen Vorgang nun so lange bestritt, bis er sich nicht mehr leugnen ließ, um erst in allerletzter Minute seinen Bruder ins Spiel zu bringen. Man könnte geneigt sein, dem Politiker zu glauben. Dies würde indes mindestens voraussetzen, dass er glaubhaft entsetzt wäre – nein, nicht über die Kritik an ihm, sondern über die Abgründe des Flugblatts.
Aiwanger zeigt keine tätige Reue
Er könnte zum Beweis, und sei es stellvertretend, tätige Reue zeigen. Etwa in dem er – eine Möglichkeit – das Gespräch mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland sucht oder in die bayerische KZ-Gedenkstätte Dachau fährt. Nichts davon geschieht. Hubert Aiwanger geht mit der Angelegenheit um wie mit einer lästigen Fliege. Und er nimmt billigend in Kauf, dass der jüdischen Gemeinschaft im Allgemeinen und den Überlebenden der Shoah im Besonderen der Schreck in die Glieder fährt.
Zufall? Hubert Aiwanger ist in seiner politischen Karriere nicht mit Antisemitismus aufgefallen, dafür aber mit Rechtsaußenpositionen, die sogar die CSU frösteln lassen. So wenn er unentwegt von „das Volk“ spricht, dessen gemeinsamen Willen er Geltung verschaffen will – statt von einer pluralen Bevölkerung, die so einen gemeinsamen Willen gar nicht kennt. Oder wenn er, auf dem Höhepunkt des Streits über das Heizungsgesetz, mahnt, die schweigende Mehrheit müsse sich die „Demokratie zurückholen“. Das ist der Sound der AfD.
Hätten wir nicht diesen vornehmlich rechtsextremen Druck auf die Demokratie aus dem In- und Ausland und noch dazu eine schwache Regierung, könnte man sagen: Schwamm drüber! Doch die Gefahr wächst täglich. Ihr werden Deutschland und seine staatlichen Repräsentanten unverändert allein mit einer glasklaren Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit begegnen können. Hubert Aiwanger ist an der Stelle nicht mehr über jeden Zweifel erhaben.