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„The GOAT“ Simone BilesDas Comeback der „größten Turnerin aller Zeiten“

Lesezeit 5 Minuten
Simone Biles beim Mehrkampf am Donnerstag. Am Ende des Wettkampfs hielt sie Gold in den Händen.

Simone Biles beim Mehrkampf am Donnerstag. Am Ende des Wettkampfs hielt sie Gold in den Händen.

Vor drei Jahren schien ihre Karriere am Ende. Bei Olympia 2024 beweist Simone Biles: Sie ist immernoch die vielleicht größte Sportlerin ihrer Zeit.

Simone Biles hat für Paris eigens Anstecknadeln produzieren lassen. Olympiapins zu sammeln gehört traditionell zu den Highlights bei Sportlern und Fans. Und die der US-amerikanischen Turnlegende sind natürlich mit die begehrtesten – schließlich ist sie der weibliche Star dieser Olympischen Spiele schlechthin. Die deutsche Ex-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz hat einen Biles-Anstecker ergattert und schwärmte davon prompt in einer Instagram-Story: „Das ist etwas Besonderes.“

„Besonders“ klingt im Zusammenhang mit Simone Biles nahezu untertrieben. Die gerade einmal 1,42 Meter große Turnerin ist ein Generationentalent. Seit mehr als zehn Jahren dominiert sie in ihrer Disziplin – eine Ewigkeit in der Welt des Turnens, in der Karrieren früh beginnen und früh enden. In dieser Zeit hat sie zigfach Sportgeschichte geschrieben. Viele halten die „GOAT“, die „greatest of all time“, für die größte Sportlerin schlechthin.

Simone Biles: selbst die Konkurrenz feiert mit

Schon als Biles am Dienstag die Arena Bercy betrat, brach ein Jubelsturm von 15.000 euphorisierten Zuschauern los. Es stand das Finale des olympischen Teamwettbewerbs auf dem Plan, bei dem Biles vor drei Jahren in Tokio psychisch zusammengebrochen war. Diesmal spielten die Nerven mit, schon nach dem ersten Sprung strahlte sie glücklich. Bei Halbzeit tanzte sie mit Blick auf die überlegene Führung ihres Teams zu „USA“-Sprechchören übermütig durch die Halle. Am Schwebebalken zitterte sie kurz, doch dann machte Biles am Boden als letzte Turnerin den überlegenen Olympiasieg ihres Teams perfekt. Die Riege der USA dominierte den Team-Mehrkampf von Beginn an und siegte überlegen. Das Besondere: Biles, ebenso wie andere Turnerinnen, hielt mit ihrem tatsächlichen Können hinterm Berg. Um die Team-Medaille nicht in Gefahr zu bringen, verzichtete sie auf ihre spektakulärsten Übungen. Sicherheit statt Risiko.

Im Mehrkampf am Donnerstag galten dann andere Spielregeln. Doppelsalti, dreifache Schrauben, in den Sprüngen so viel Energie, dass man glaubte, es wäre noch Platz für drei weitere Drehungen gewesen: Die augenscheinliche Leichtigkeit, mit der Biles Kunststücke vorführte, die – und das ist keine Übertreibung – kein zweiter Mensch auf dem Planeten gemeistert hat, versetzte sogar die Konkurrenz in Begeisterung. Die Brasilianerin Rebeca Andrade, die Biles im Wettkampf dicht auf den Versen war, verfolgte Biles' Vorführung lachend und mit Applaus.

Simone Biles strahlt nach ihrem Auftritt, der ihr Gold bringt.

Simone Biles strahlt. Sie weiß: Gold ist ihr sicher.

Mit ihrer überragenden Darbietung erturnte sich Biles ihre sechste olympische Goldmedaille. Weitere vier Goldene könnten für Biles in Paris folgen, sie hat sie sich für vier Einzelfinals qualifiziert. Mit 27 Jahren ist die mit nunmehr 38 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften erfolgreichste Turnerin aller Zeiten besser als je zuvor. Schon fünf weltweit neue Turnelemente sind nach ihr benannt, zumindest ein weiteres könnte noch in Paris folgen.

Es sind jedoch nicht nur ihre außergewöhnlichen Kunststücke, die faszinieren. Es ist ihre Lebensgeschichte, die kürzlich in der Netflix-Doku „Simone Biles Rising“ noch einmal eindrucksvoll nacherzählt wurde. Im Mittelpunkt steht dabei die Tragödie bei den Olympischen Spielen von Tokio im Jahr 2021, als Biles in den Medien schon vorher als Star der Corona-Spiele feststand. Doch es sollte anders kommen.

Völlig orientierungslos: Simone Biles hatt „twisties“

Im Team-Mehrkampf machte sie im Sprung nur anderthalb statt der geplanten zweieinhalb Drehungen. Biles brach den Wettkampf unter Tränen ab, aus der Überturnerin war ein Mensch geworden. Sie kehrte für das Finale auf dem Schwebebalken zurück und gewann Bronze, doch danach brach die Tochter einer suchtkranken Mutter zusammen. Ihr Körper wollte einfach nicht mehr das machen, was ihr Kopf wollte. Bei den hochkomplizierten Übungen in der Luft verlor sie die Orientierung, wusste nicht mehr wo oben unten war. Das kann für Turnerinnen auf diesem Level lebensgefährlich werden. Viele prophezeiten Biles damals das Ende ihrer einzigartigen Karriere. Sie sollten falsch liegen.

„Ich habe mindestens 500 000 Mal darüber nachgedacht, mit dem Turnen aufzuhören“, sagt Biles. Stattdessen entschied sie sich, eine Pause einzulegen und einen Psychotherapeuten aufzusuchen. So wurde ihr bewusst, dass ihre Probleme mit jahrelangem Missbrauch zusammenhängen.

Das wohl schwierigste Turnier in ihrer Karriere: Simone Biles 2021 in Tokio

Das wohl schwierigste Turnier in ihrer Karriere: Simone Biles 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio

Biles, die in armen Verhältnissen und in Kinderheimen aufwuchs, bevor sie von ihrem wohlhabenden Großvater adoptiert wurde, gehört zu den 265 Opfern des Ex-US-Teamarztes Larry Nassar, der 2018 als Sexualstraftäter verurteilt wurde. Über Jahre hatte sich Nassar auf der Károlyi-Ranch in Texas, der Kaderschmiede für US-Top-Turnerinnen, an seinen Schützlingen vergriffen. Auch Biles trainierte auf der Ranch, unter anderem in Vorbereitung für Olympia 2016 in Rio. Während der größte Missbrauchsskandal der US-Sportwelt öffentlich wurde und zahlreiche Turnerinnen sich äußerten, schwieg die Ausnahmesportlerin zunächst. Erst 2018 outete sie sich als Opfer und erklärte, dass sie die Schuld lange Zeit bei sich selbst gesucht hätte. Die tatsächliche persönliche Aufarbeitung sollte jedoch noch weiter auf sich warten – bis zum Tiefpunkt in Tokio.

Leben statt Sport: Simone Biles heiratete Jonathan Owens

Nach ihrem öffentlichen Zusammenbruch entwickelte Biles Methoden, um die „Dämonen im Kopf“ zu vertreiben und den Druck besser zu verarbeiten. Sie heiratete den US-Footballer Jonathan Owens. Die neue Stabilität im Privatleben und vor allem ihre alten Teamkolleginnen halfen Biles nach anderthalb Jahren Pause auf dem Weg zurück zum Turnen. Sie trainierte wie verrückt und feierte bei der WM 2023 mit viermal Gold und einmal Silber ein unglaubliches Comeback.

In Paris will sie nun das Drama von Tokio endgültig vertreiben: „Ich will mein eigenes Ende schreiben.“ Schon seit Dienstag steht fest, dass es ein goldenes sein wird.