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Sezieren von Leichen zunehmend umstritten„Ich möchte einen Körper von innen sehen“

Lesezeit 7 Minuten
Körperspende dpa

Leichnam eines Körperspenders am Institut für Anatomie der Universitätsklinik Greifswald

  1. Dass Medizin-Studenten Leichen sezieren, ist für die Universitäten sehr teuer. Vier- bis fünfstellige Beträge fallen pro Körperspender an, dazu kommen noch die Unterhaltskosten der Institute.
  2. Manche fordern darum eine Abschaffung des Studiums am toten Körper. Andere befürchten fundamentale Mängel bei den Ärzten in spe, die keine Erfahrung mit Leichen gemacht haben und Angst vor Körperkontakt entwickeln.
  3. Wer hat recht? Und was wären die Alternativen? Besuch in einem Sezier-Kurs?

Der Leichnam, über den sich Klara Stock im dritten Semester beugt, ist ein Hüne, vielleicht 1,90 Meter groß. Behutsam setzt sie das Skalpell an. Reflexartig erwartet sie Blut. Aber der gelbliche Leib des Körperspenders ist mit Ethanol und Formaldehyd konserviert. Stock ist zu zaghaft. Nur mit ganzer Kraft kann sie die sehr dicken Hautschichten durchtrennen. Auch im Körperinneren ist alles riesig. Die Halsschlagader ist so dick, dass zwei ihrer Finger hineinpassen. Das Herz des Toten liegt wuchtig in Stocks Hand.

„Das sah doch anders aus als im Lehrbuch“, erinnert sich die Medizinstudentin am Universitätsklinikum Halle. Vor allem die Variabilität der Gewebe überrascht sie. Bei ihrem Hünen zeichnen sich die Muskeln deutlich vom Bindegewebe ab. Der Leichnam auf dem Nachbartisch ist dagegen so zart, einige Muskeln lassen sich kaum finden.

Zergliedern der Leichen hat lange Tradition

Wenn sie heute am OP-Tisch steht und sich beispielsweise vergegenwärtigen muss, wo die Gallenblase liegt, kommen ihr wieder die Bilder des Hünen in den Kopf. „Ich überlege, wie sah das aus, wo lag das. Was haben wir hochgehoben und welche Gewebe beiseitegelegt.“ Fotografisch hat sich die Anatomie in ihr Gehirn eingeprägt. Nur, was man angefasst hat, hochgehoben und gedreht hat, kann man wirklich begreifen, meint die Anatomin Heike Kielstein von der Universitätsklinik Halle. Das Zergliedern der Leichen hat eine lange Tradition an den medizinischen Fakultäten. „Ich kämpfe wie eine Löwin für den Erhalt dieser Veranstaltung“, sagt Kielstein.

Aus gutem Grund: Nicht alle mögen die Lehre an den Toten. Der Anatomiekurs ist mit Abstand der teuerste Kurs im Medizinstudium. Pro Körperspender fallen vier- bis fünfstellige Beträge an, die Unterhaltung der Institute nicht eingerechnet. Herbert Lippert, ein berühmter deutscher Anatom, fand das Zergliedern der Leichen schon in den 1970er Jahren nicht mehr zeitgemäß. Er fordert bis heute öffentlich „das Ende dieser Pflichtveranstaltung“.

Studium soll ab 2020 reformiert werden

In Mannheim wurde das Medizinstudium 2006 neu organisiert. Die Studierenden präparieren dort seither nur noch zwei Wochen an der Schwesterfakultät in Heidelberg eine Leiche. Die European Medical School in Oldenburg verfügt nur mehr über einen virtuellen Präpariersaal. Das Bundesgesundheitsministerium will das Medizinstudium ab 2020 reformieren und praxisnäher gestalten. Der traditionelle Anatomiekurs könnte ein Kürzungskandidat sein.

Rembrandt dpa

„Die Anatomie-Stunde des Dr. Tulp“ von Rembrandt wurde 1632 fertiggestellt.

Um Spendermangel oder ethisch-religiöse Bedenken geht es dabei nicht: 25 Leichen benötigen die Studierenden in Halle jedes Jahr. Dem stehen Hunderte Körperspender auf einer Warteliste gegenüber, die noch zu Lebzeiten bescheinigen, ihren toten Körper für Forschung und Lehre hergeben zu wollen. „Der Grund für die Nachfrage ist die günstige Form der Bestattung: 750 Euro verglichen mit etlichen tausend Euro bei einer konventionellen Beisetzung. Im Anschluss an die Lehrveranstaltungen wird der Leichnam auch bei uns auf dem Ehrenfriedhof beigesetzt“, so Kielstein.

In Mannheim gibt es keine Warteliste für Körperspender. „Wir sehen uns nicht als Vorbild für andere Hochschulen“, schickt der Studiendekan Thomas Wieland von der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg vorweg. Er will keinen Streit provozieren. 2006 führten die Mannheimer ein modulares Studium ein. Die Studierenden lernen nach Körperfunktionen – Verdauung, Bewegungsapparat, Nervensystem. Das Präparieren einer ganzen Leiche passt in dieses Konzept schlecht hinein; in jedem Semester müsste ein anderer Bereich des Toten geöffnet werden.

Lernen an Modellen des Gunther von Hagen

Deshalb haben sich die Mediziner für eine andere Lösung entschieden: Die Anatomie vermitteln sie vor allem an Modellen, die aus dem Plastinarium des Gunther von Hagen in Polen stammen. Das sind Torsi, das Gehirn und Körperscheiben konserviert und hart wie Plastik. „Unsere Studierenden schneiden verglichen mit anderen Universitäten sehr gut ab. Sie erlernen die Anatomie genauso gründlich“, sagt der Mannheimer Neuroanatom Christian Schultz.

Die Studierenden haben sich an das Lernen an Plastinaten gewöhnt. „Die sind hart, nicht glitschig. Sie riechen nicht und man hat weniger Angst“, sagt Philipp Lautenschläger, Medizinstudent, 22. In dem zweiwöchigen Kurs an echten Leichen habe er kaum Zusätzliches gelernt. Marie Hofmann, ebenfalls Medizinstudierende in Mannheim-Heidelberg, hat die vierzehn Tage an der echten Leiche noch vor sich. Ihre Erwartungen sind groß: „Ich möchte einen Körper von innen sehen, bevor es im OP-Saal passiert“, sagt sie. Sie fände es zwar gut, an den Plastinaten zu lernen, aber das haptische Erleben fehle ihr. „Die Darmschlinge, die beweglichen Bauchorgane, das bleibt doch recht abstrakt.“

Kritik an Anatomie-Software

Als Alternative zur Lehre an den Toten floriert Software für virtuelle Leichen und digitale Seziertische. Nahezu jede Universität arbeitet auch damit. Daran habe er nicht gut lernen und die dreidimensionalen Gewebe schlecht erkennen können, erinnert sich Lautenschläger. Am Computer kann man zwar in die Leber hineinscrollen oder durch das Gehirn klicken, aber die Darstellungen bleiben zweidimensional und damit näher an der Abbildung im Lehrbuch als am Eindruck beim Öffnen eines Leibes.

Herbert Lippert, Gegner des Präparierens von Leichen, ersann indes „die Anatomie am Lebenden“ – in der Zeit der 68er-Bewegung. Die Studierenden ertasten Schulterblätter, Schlüsselbein und Aorta bei Kommilitonen. „Diesen Kurs finden sie oft schrecklich, weil sie sich ausziehen müssen und in Bikini und Badehose voreinander stehen“, berichtet Kielstein. Sie lehrt dennoch auch diese Variante – aber zusätzlich zur Lehre an der Leiche: „Viele Ärzte haben heute aufgrund der Digitalisierung der Medizin Scheu, Patienten zu berühren und abzutasten. Diese sinnliche Information ist aber sehr wichtig.“ Zum Beispiel lassen sich Rückenschmerzen mit einer Untersuchung des Körpers genauer diagnostizieren als mit MRT-Scans.

Organspende ist Ausschlusskriterium

Körperspenden sind unter anderem auch in Köln und Bonn an den jeweiligen Anatomischen Instituten der Unis möglich. Dafür bedarf es einer handschriftlichen letztwilligen Erklärung , die aber jederzeit schriftlich widerrufen werden kann. In einem aufwendigen Verfahren wird der Leichnam sorgfältig konserviert und für die Untersuchung durch die Studierenden vorbereitet. Die Bestattung erfolgt in der Regel anderthalb bis zwei Jahre nach dem Tod.

In Köln werden Körperspender für die anonyme Beisetzung um einen Unkostenbeitrag von 1100 Euro gebeten. In Bonn fallen keine Kosten an.

Ausschlusskriterien für eine Körperspende ist eine zu große Entfernung zur jeweiligen Uni (Bonn 60 km/ Köln 100 km) beziehungsweise eine Organspende. Weitere Infos:

anatomie.uni-koeln.de

anatomie.uni-bonn.de

Es wird deutlich: Die Alternativen zum traditionellen Anatomiekurs – das Lernen an Modellen, an virtuellen Leichen oder an Lebenden – lehren vor allem im Erleben etwas anderes. Einen gleichwertigen Ersatz für den Kurs gibt es nicht. Bleibt die Frage, wie wichtig die Erfahrung an der Leiche für einen Arzt ist. Schon vor zehn Jahren rangen Mediziner in den USA um den nostalgisch anmutenden Präparierkurs. Ausgerechnet die renommierte Harvard Medical School in Boston schaffte ihn kurzzeitig sogar ab. „Davon ist man wieder ganz abgekommen“, sagt Anette Wu, Anatomin an der Columbia University in New York. „Die Lücken in der Erfahrung der Studierenden waren doch merklich.“

Zum Beruf jedes Arztes gehört auch die Leichenschau, bei der er den toten Körper entkleiden, drehen und in Augenschein nehmen muss. Schon lange gibt es fundamentale Kritik an der Qualität, weil immer wieder offenkundig falsche Todesursachen in den Dokumenten auftauchen. Einer der wichtigsten Mängel: Die Ärzte fassen das Opfer erst gar nicht an. Berührungsängste vor dem unangenehm riechenden Leichnam sind ein wichtiges Motiv, allerdings auch schlechte Bezahlung für den Dienst am Toten. Kielstein sagt: „Im Anatomiekurs erfahren die Studierenden anschaulich, was Krankheiten im Körper machen.“

Bei einem Praktikum an einem griechischen Krankenhaus lernte Klara Stock viele angehende Ärzte kennen, die nie eine Leiche geöffnet hatten. In einigen EU-Ländern sind Anatomiekurse unüblich. Es geht also auch ohne, könnte man daraus schließen. Stock wendet jedoch ein: „Ich war erschrocken, dass die Mediziner dort oft selbst beklagten, dass sie gar nicht genau wüssten, wie dieses oder jenes Gewebe aussehe. Sie fühlten sich bei den OPs dadurch unsicher. In einen lebenden Patienten kann man nicht einfach so hineinfassen, weil man mal die Leber sehen und spüren will.“ Ohne die Lehre an den Leichen würde ihr ganz viel Verständnis für die Anatomie fehlen.