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Anklage auf Mord mit 167 km/hWie Raser einer Mutter aus NRW das Leben nahmen

Lesezeit 6 Minuten
Moers Autowrack

Mit mehr als 160 km/h soll der Unfallfahrer in das Fahrzeug einer 43-Jährigen gekracht sein.

  1. Sema S., 43 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, Ehefrau, starb, weil ein Fahrer am Ostermontag 2019 in das Heck ihres Kleinwagens krachte.
  2. 167 km/h schnell soll der Mercedes gewesen sein – erlaubt waren 50.
  3. Am Steuer saß Kushtrim H. Er muss sich nun vor Gericht verantworten. Der Vorwurf lautet: Mord.

Moers – Es ist der Abend des Ostermontag 2019, an dem ein Raser das Leben der Familie S. aus Moers für immer verändern wird. Sema S., 43 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, biegt mit ihrem Citroen Saxo im Stadtteil Meerbeck in die Bismarckstraße ein, als es plötzlich kracht. Kushtrim H. rauscht mit voller Wucht in das Heck des Kleinwagens, bis auf 167 Stundenkilometer soll er beschleunigt haben, wo nur 50 erlaubt sind. Der Citroen kracht zuerst in ein geparktes Auto, dann gegen einen Baum. Sema S. ist nicht angeschnallt und wird aus dem Auto geschleudert.

Die Kollision setzt gewaltige Kräfte frei. Ein Reserverad löst sich, rast wie ein riesiges Geschoss 100 Meter durch die Luft und kracht gegen ein Garagentor. Eine Passantin hatte Glück. Hätte sie sich nicht gerade zu ihrem Hund hinuntergebeugt, wäre sie von dem Reifen vermutlich voll getroffen worden, heißt es in der Anklage. Kushtrim H. steigt aus dem Auto, doch helfen will er nicht. Er flüchtet humpelnd. Sema S. erliegt drei Tage später ihren schweren Verletzungen. Die Polizei startet eine Öffentlichkeitsfahndung, sucht mit Bild nach dem Unfallverursacher. Eine Woche später stellt sich H. im Beisein seines Anwalts, seitdem sitzt er in U-Haft. Von Montag an muss er sich wegen Mordes vor dem Landgericht Kleve verantworten. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe.

Kushtrim H. soll seinen Wagen wie eine Waffe eingesetzt haben

Mit ihm auf der Anklagebank sitzt ein mutmaßlicher Bekannter von H. Zusammen sollen sich die beiden damals 21-Jährigen ein illegales Autorennen geliefert haben. Laut Staatsanwaltschaft haben sich die Männer, die beide aus Duisburg kommen, am Abend des 22. April mit ihren Autos zunächst auf einem Supermarktparkplatz in Moers getroffen. Sie ließen ihre Motoren aufheulen, um „die Leistungsstärke ihrer Fahrzeuge zu demonstrieren“. An der „Glück-auf-Schranke“, einem Bahnübergang, sollen sie das Rennen gestartet haben. Sie rasten los, trotz Dunkelheit mit Vollgas.

Moers Straße

In dieser Straße wurde die unbeteiligte Sema S. mutmaßlich Opfer eines illegalen Autorennens.

Die beiden steuerten keine gewöhnlichen Autos. Der Bekannte fuhr einen Range Rover Sport mit 550 PS. Kushtrim H. saß am Steuer eines Mercedes AMG E 63 S mit 650 PS. Ein Wagen, den H. nach Meinung der Staatsanwaltschaft wie eine Waffe einsetzte. Und deshalb kam für sie nach intensiven Ermittlungen auch nur eine Anklage wegen Mordes in Frage. „Aufgrund seines Verhaltens muss man von einem bedingten Tötungsvorsatz ausgehen“, sagt Oberstaatsanwalt Günter Neifer.

Lesen Sie hier, wie eine spezielle Einsatzgruppe in Köln Jagd auf Raser macht.

Juristisch gesehen wurde der Bolide zum „gemeingefährlichen Mittel“, zu einem Mordwerkzeug. „Ein solches Auto überhaupt unter Kontrolle zu halten, erfordert ein hohes Maß an Fahrpraxis.“ Die allerdings konnte H. nicht vorweisen. Er hatte nie einen Führerschein gemacht. Das Auto war nach Informationen dieser Zeitung auf den Vater zugelassen.

Ku'damm-Urteil: In Berlin wurden zwei Raser wegen Mordes verurteilt

Die Kammer wird vor allem eine Frage beschäftigen: Lässt sich der Mordvorwurf im Lauf der auf fünf Tage angesetzten Hauptverhandlung aufrechterhalten? Die Staatsanwaltschaft orientierte sich in ihrer Anklage am so genannten Ku‘damm-Urteil des Berliner Landgerichts, das 2016 erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte zwei Raser wegen Mordes verurteilt hatte. Bei dem illegalen Rennen auf dem Kurfürstendamm wurde ein 69 Jahre alter unbeteiligter Autofahrer getötet. Der Bundesgerichthof (BGH) kassierte die Entscheidung zwar wegen Mängeln in der Urteilsbegründung. Die Berliner mussten erneut verhandeln, kamen aber zum selben Ergebnis. Abermals verurteilten sie die beiden wegen Mordes.

Auch Kushtrim H. droht nun eine lebenslange Haftstrafe, aber auch seinem Mitangeklagten könnte der tödliche Unfall teuer zu stehen kommen. Er hatte das Rennen zwar womöglich vor der Kollision abgebrochen und war nach rechts in eine Seitenstraße abgebogen. Sollte wie von der Anklage vorgesehen der neue Paragraph 315d Strafgesetzbuch zur Anwendung kommen, könnte er dennoch für einige Zeit im Gefängnis landen. Nach der erst 2017 geschaffenen Norm können Teilnehmer von tödlich endenden Rennen mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden.

Im März vergangenen Jahres bestätigte der BGH erstmals ein Mord-Urteil gegen einen Raser. In diesem Fall ging es um einen 24 Jahre alten Litauer, der in Hamburg ein Taxi geklaut hatte und betrunken und ohne Licht vor der Polizei geflüchtet war. In der Innenstadt raste er mit hoher Geschwindigkeit auf der Gegenfahrbahn und stieß mit einem Wagen zusammen. Ein 22 Jahre alter Mann starb. Das Landgericht verurteilte den Angeklagten zu lebenslanger Haft.

Köln: Raser und illegale Rennen seit vielen Jahren ein Problem

Auch in Köln sind Autoraserei und illegale Rennen seit vielen Jahren ein Problem. Hotspot der Szene ist der Auenweg in Deutz. Hier hatte ein Raser bei einem illegalen Rennen im April 2015 eine 19 Jahre alte Jurastudentin getötet, die auf ihrem Rad unterwegs war. Der anschließende Prozess sorgte für Empörung. Das Kölner Landgericht hatte lediglich Bewährungsstrafen gegen die beiden 25 Jahre alten Angeklagten verhängt. Wieder war der BGH gefragt, der das Strafmaß zwar bestätigte, aber Zweifel an der Bewährungsfähigkeit hatte. In einem zweiten Verfahren schickte das Landgericht schließlich beide für zwei beziehungsweise anderthalb Jahre ins Gefängnis.

Die Familie des Opfers musste sich ins Leben zurückkämpfen

Auch die Bismarckstraße in Moers, in der Sema S. zu Tode kam, sei ein bekannter Treffpunkt für Raser, sagt Rechtsanwalt Christian Stieg, der die Angehörigen in der Nebenklage vertritt. Seit vielen Jahren schon kämpft eine Bürgerinitiative gemeinsam mit dem Auto Club Europa (ACE) für die Umwandlung in eine Tempo-30-Zone. Bislang ohne Erfolg. Einen entsprechenden Antrag hatte der Stadtrat bereits abgelehnt, mit Verweis auf die Straßenverkehrsordnung, die Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen nicht zulasse. Inzwischen hat die Bürgerinitiative einen weiteren Versuch gestartet.

Moers Kerzen

Kerzen erinnern Sema S., die bei dem Unfall tödlich verletzt wurde.

Die Familie von Sema S. kennt die Straße gut, sie wohnt um die Ecke. Fast täglich kämen Mann und Kinder an dem Ort vorbei, an dem Kushtrim H. ihre Mutter und Ehefrau zu Tode gerast haben soll. „Das alles hat sie völlig aus der Bahn geworfen“, sagt Rechtsanwalt Stieg. Der Ehemann ließ die Arbeit, der Sohn die Ausbildung ruhen. Die Tochter, zum Tatzeitpunkt gerade volljährig geworden, konnte nicht mehr zur Schule gehen. „Es ist eine Situation, mit der niemand konfrontiert werden möchte“, sagt Stieg im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Sie haben sich inzwischen ins Leben zurückgekämpft. Aber es ist kein fröhliches Leben, das sie führen.“Für die psychische Verarbeitung sei es wichtig, dass die Sache jetzt zu einem Abschluss komme, sagt Stieg. Vom Prozess erwarte die Familie in erster Linie eine klare Sanktion. Zu einer persönlichen Begegnung mit Kushtrim H. aber wird es zumindest vorerst nicht kommen. Zum Prozessauftakt wollen seine Mandanten nicht erscheinen, kündigt der Anwalt an. „Die Familie hat keinerlei Interesse daran, ihn zu sehen.“