Rund 40 Millionen Menschen im Südwesten der USA sind vom Colorado River abhängig. Vor notwendigen, aber unpopulären Maßnahmen, um den Fluss zu retten, schrecken Politiker zurück.
Apokalypse am Colorado RiverEin Fluss stirbt – und alle schauen weg
Der Hoover Dam, keine halbe Stunde außerhalb von Las Vegas gelegen, gehört seit Jahrzehnten zum Standardprogramm eines Besuchs im Westen der USA. Der Megadamm, mehr als 200 Meter hoch und 380 Meter breit, gilt als Paradebeispiel amerikanischer Ingenieurskunst und amerikanischen Pioniergeistes. Seine Errichtung in den 1930er-Jahren sicherte mehr als 20Millionen Menschen im Westen des Landes die Versorgung mit Wasser und Strom.
In den vergangenen Jahren ist ein Besuch am Hoover Dam jedoch zu einem beklemmenden Erlebnis geworden. Der 180 Kilometer lange Lake Mead, zu dem der Damm den Colorado River in der Hochwüste staut, bietet einen erschreckenden Anblick. Die Kruste, die der Wasserstand über die Jahre in den Fels entlang des Seeufers gemalt halt, liegt heute bald 60 Meter höher als die Wasseroberfläche. Seinen höchsten Stand erreichte der See vor 40 Jahren im Jahr 1983. Heute wirkt der einst mächtige Stausee wie eine leere Badewanne.
Der Lake Mead steht nur noch bei 25 Prozent seiner Kapazität – und er ist somit das deutlichste Zeichen dafür, dass der Colorado River, der ihn speist, austrocknet. Die Wassermenge, die der Fluss trägt, ist im Durchschnitt um 20 Prozent zurückgegangen. Experten gehen davon aus, dass er bis zum Ende des Jahrhunderts nur noch 50 Prozent seiner einst höchsten Wassermasse transportiert.
Apokalyptisches Szenario
Solche Statistiken wären für jeden Fluss tragisch. Im Fall des Colorado River hat das Austrocknen jedoch potenziell katastrophale Konsequenzen. Der gesamte Südwesten der USA ist von diesem Fluss abhängig: insgesamt rund 40 Millionen Menschen. Städte wie Las Vegas, Los Angeles, Denver oder Phoenix können ohne den Colorado River nicht existieren. 29 indigene Stämme hängen von seinem Wasser ab sowie große Landstriche im Norden von Mexiko.
Das Austrocknen dieser gigantischen Region ist ein apokalyptisches Szenario. Es ist eine Vorstellung von den USA als einem ökologischen Katastrophengebiet. Eine Vorstellung, die erst jüngst durch Bilder aus dem amerikanischen Nordosten gefüttert wurde, wo eine bislang unbekannte Häufung an Waldbränden in Kanada eine gesamte Region tagelang unter einer gelblichen Rauchwolke begrub.
Im Südwesten schmerzen solche Katastrophenszenarien ganz besonders. Die Region ist in der amerikanischen Vorstellung ein gelobtes Land, mit unerschöpflichen Ressourcen und unbegrenzten Möglichkeiten. Nach Westen zu ziehen ist seit den Anfängen des Landes gleichbedeutend mit der Verwirklichung des amerikanischen Traums. Nun droht der Westen zu einem Katastrophengebiet zu werden.
Im Sommer des Jahres 2021 rief die US-Bundesregierung zum ersten Mal entlang des Colorado River einen Wassernotstand aus und zwang die Bundesstaaten Arizona und Nevada zu einer temporären Reduzierung ihres Wasserverbrauchs. 2022 folgte ein Aufruf aus Washington an die sieben Staaten entlang des Flusses, sich darauf zu einigen, ihren Verbrauch dauerhaft um insgesamt rund 40 Prozent zu reduzieren.
Doch der Aufruf, eine reine Empfehlung, blieb ergebnislos. Die Bundesstaaten konnten sich erwartungsgemäß auf gar nichts einigen. Insbesondere der konservative Staat Arizona und der linksliberale Staat Kalifornien wollen sich gegenseitig keinen Tropfen schenken. Die Staaten im oberen Bassin des Colorado River wie Colorado und Utah, die sich durch historische Abkommen benachteiligt fühlen, weigerten sich, ihre Geheimreserven anzuzapfen, die sie durch ein Netzwerk kleinerer Dämme angelegt hatten. Und Kalifornien portionierte seinen Wasserkonsum strategisch so, dass der Verbrauch niedriger erschien, als er tatsächlich war.
Das schwächste Glied bei diesen Verteilungskämpfen waren wie immer die indigenen Völker entlang des Flusses. Da sie in keinem der Abkommen und Verträge über die Nutzung des Wassers vorkommen, verlieren sie als erste ihre Lebensgrundlage. So hat die Ute Nation im Westen von Colorado im vergangenen Jahr 90 Prozent ihres Wassers eingebüßt. Das Volk, das von der Landwirtschaft lebt, musste die Hälfte seiner Arbeiter entlassen. Die Folge sind Armut, Verwahrlosung und Hunger.
So musste die Bundesregierung noch drastischer einschreiten. Im Mai 2023 erließ die Regierung Joe Bidens die Drohung, eine Einigung zu verordnen, wenn die Staaten keinen Plan erarbeiten. Man erneuerte die Verpflichtung, über drei Jahre vier Milliarden Kubikmeter Wasser einzusparen.
Zweifel an der Entschlossenheit von Joe Biden
Die Drohung markierte das erste Mal überhaupt, dass sich die Bundesregierung in die Wasserverteilung unter den Einzelstaaten einmischte. Präsident Biden wurde für sein Einschreiten universell gelobt. Doch die Einsparungen gelten bestenfalls als Abwendung des Schlimmsten. „Die vier Milliarden Kubikmeter sind lediglich die Menge, die wir bereits zu viel verbrauchen“, sagt Abrahm Lustgarten, investigativer Reporter für die Stiftung Pro Publica, der sich seit vielen Jahren mit der Wasserversorgung des Westens beschäftigt. Im Grunde käme die Regelung 20 Jahre zu spät, sagt er.
Zudem bestehen noch immer Zweifel an der Entschlossenheit von Biden. Gerade Arizona ist bei der Präsidentschaftswahl ein entscheidender Staat. Biden wird sich genau überlegen, ob er die Wähler dort brüskiert.
Langfristig bedarf es im Westen jedoch noch weitaus dramatischerer Einschnitte. „Die Staaten müssen radikal überdenken, welchen Städten sie Wachstum erlauben, welche Industrien sie unterstützen. Die gesamte Region muss von vorn anfangen, wenn sie überleben möchte“, sagt Lustgarten. Der Weg des unbegrenzten Wachstums, den die Region in den vergangenen 100 Jahren gegangen ist, ist zur Sackgasse geworden.
Gemüsegarten der USA
Das Austrocknen des Westens ist eine Katastrophe mit Ansage. Die Region weiß seit Jahrzehnten, dass sie mit ihren Ressourcen irgendwann an ihre Grenzen stoßen wird – auch ohne den Klimawandel, der die Lage verschärft hat. Bereits im Vertrag der sieben Colorado-River-Staaten über die Nutzung des Flusses im Jahr 1922 wurde mehr Wasser verteilt, als der Colorado trägt. Die Berechnungen basierten auf dem Wasserstand in extrem nassen Jahren. Und Nutzer wie die indigenen Völker und die Regionen in Mexiko, die den Fluss brauchen, wurden von der Kalkulation vollständig ausgenommen.
Trotzdem wurde munter expandiert. Bis heute sind Las Vegas, Phoenix und Denver rasant wachsende Städte. In den vergangenen 30 Jahren ist die Bevölkerung der Region um 15 Millionen Menschen gestiegen. Vor allem jedoch siedelte sich ein großer Teil der amerikanischen Landwirtschaft in den sonnigen Tälern des Westens an. Das Imperial Valley von Kalifornien ist der Gemüsegarten der USA – rund zwei Drittel des nationalen Bedarfs stammt aus dem Landstrich entlang der mexikanischen Grenze. So gerät mit dem Austrocknen des Flusses die gesamte Lebensmittelversorgung der USA sowie die Existenzgrundlage der Region ins Wanken.
Um sowohl die Region als auch die Ernährung des Landes zu retten, wären einschneidende Änderung der bestehenden Praktiken notwendig. Die Landwirtschaft verbraucht rund 70 Prozent des Wassers der Region. Eine Dezentralisierung und/oder nachhaltigere Praktiken, könnten viele der Probleme lösen. Doch Abrahm Lustgarten ist eher pessimistisch: „Es ist ein vertracktes Problem. Die Landwirtschaft in der bestehenden Form gehört zur Kultur und zur Identität dieser Region. Und es hängen viele Einkommen davon ab.“ Deshalb traut sich bislang die Politik nicht an dramatische Maßnahmen heran.
Als Beispiel für die Reformresistenz der Landwirtschaft nennt Lustgarten etwa die Alfalfa-Produktion. Alfalfa wird vorwiegend zur Viehfütterung verwendet, ein bedeutsamer Anteil der kalifornischen Produktion wird exportiert. Doch Washington zaudert, sich mit den ausländischen Handelspartnern und der Fleischindustrie anzulegen, zumal die Rancher in Arizona und Nevada mehrfach ihre Bereitschaft demonstriert haben, sich zur Not auch militant mit dem Bund anzulegen.
So hält die Bundesregierung dysfunktionale Praktiken aufrecht anstatt einzuschreiten. Alfalfa- und Fleischproduktion werden subventioniert. Gleichzeitig bezahlt man Bauern dafür, Wasser, das sie nicht brauchen, nicht einfach versickern zu lassen. Veraltete Regeln räumen Nutzern das Recht auf die gleiche Wassermenge nur dann wieder ein, wenn sie im Vorjahr ihr gesamtes Kontingent verbraucht haben. Das hat im Imperial Valley zu einer Wasserverschwendung monumentalen Ausmaßes geführt.
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An einem noch härteren Eingreifen der Bundesregierung führt, allen Widerständen zum Trotz, kein Weg vorbei, wenn die Region überleben will. „Wir brauchen eine nationale Wasserpolitik, die auf die Lebensmittel- und die Energiepolitik abgestimmt ist“, sagt Jay Famiglietti, Direktor des Globalen Instituts für Wassersicherheit an der Universität von Saskatchewan. Und dabei darf kein Augenblick mehr verschwendet werden. „Wir stehen an einem Scheideweg. Wir sind dabei, zu scheitern.“
Anstatt in Kalifornien und Arizona weiterhin die knappen Wasserressourcen zu verbrauchen, müssten Teile der Landwirtschaft in andere Gegenden des Landes verlagert werden. Doch auch das geht nur durch ein massives Eingreifen von Washington. Und ein solches ist in den USA ausgesprochen unpopulär.
Massive Verteilungskämpfe
Famiglietti nennt sich selbst einen Realisten; seine Prognose ist ausgesprochen trübe. Er glaubt nicht daran, dass die Probleme unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen lösbar sind. In Kalifornien etwa beobachtet er, dass die Wasserversorgung unter dem derzeitigen Gouverneur Gavin Newsom im Vergleich zu seinem Vorgänger wieder eine deutlich geringere Priorität eingenommen hat. „Newsom ist in der Mitte seiner Karriere. Und alle Maßnahmen werden unpopulär sein.“ Irgendwen wird die Politik brüskieren müssen, um die Probleme zu lösen.
Am bedenklichsten findet Famiglietti, dass die Regulierung des Wasserverbrauchs nur das Oberflächenwasser betrifft. Das wiederum hat zur Folge, das die Verbraucher auf Grundwassernutzung umstellen, die bislang keinen Beschränkungen unterliegt. Das Grundwasser wird dadurch irgendwann so salzig und so verschmutzt sein, dass man es nicht mehr nutzen kann.
Die Folge werden massive Verteilungskämpfe sein. Kämpfe, die in anderen Gegenden der USA vor den Gerichten bereits eingesetzt haben. So hat jüngst der Staat Florida den Staat Georgia dafür verklagt, dass die Austernindustrie in Florida kollabiert. Der angebliche Grund dafür sei ein zu hoher Wasserkonsum in den Vororten von Atlanta gewesen. In einem ähnlichen Streit stehen sich seit Jahren Texas und New Mexico vor Gericht wegen der Nutzung des Rio Grande gegenüber.
Im Westen haben die Anrainer noch immer die Chance, sich über die Verteilung des immer knapper werdenden Colorado-Wassers zu einigen. Um die Reserven wenigstens noch ein paar Jahrzehnte zu strecken, müssten jedoch alle Interessengruppen massive Einschnitte hinnehmen. Laut einer neuen Studie müssten die Staaten am oberen Flusslauf ihren Verbrauch um 53 Prozent reduzieren. Mexiko und die Staaten des unteren Flusslaufes müssten ihren Verbrauch um 45 Prozent zurückfahren. Dann könnte man die Wasserversorgung zumindest bis 2060 sichern.
Die Alternative ist jedoch noch wesentlich unattraktiver. Bewaffnete Konflikte zwischen Wassernutzern sind nicht auszuschließen, meinen viele. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, wie reiche Rancher ihr Wasser gegen indigene Stämme und arme Farmer verteidigen, deren Land vertrocknet. Oder wie die Nationalgarde in Colorado die Öffnung von Staudämmen erzwingt. Am Ende stünde eine entvölkerte, verödete Region. Ein amerikanischer Albtraum.
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