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AttendornHilferuf aus der Sicht eines Kindes blieb ungehört

Lesezeit 5 Minuten
Der Fall Attendorn

Der Fall Attendorn

In Attendorn wird die Kritik am Jugendamt lauter. Mysteriöse Briefe wiesen schon früh auf das versteckte Mädchen hin, die Polizei wurde wohl nicht umfassend informiert.

Es ist der 1. Oktober 2020, als im Rathaus im sauerländischen Attendorn ein ominöser Brief zugestellt wird. Der Absender ist anonym, die Buchstaben sind aus Zeitungen ausgeschnitten, die Zeilen besorgniserregend. Es ist zu lesen, dass ein Kind seit 2015 bei den Großeltern in Attendorn wohne und das Haus seitdem nicht verlassen dürfe.

Am meisten aber dürfte ein Detail überrascht haben: Das Schreiben wurde aus der Sicht eines Kindes verfasst. Das geht aus einem vertraulichen Bericht des Innenministeiums hervor, der dieser Zeitung vorliegt. Wer genau den Brief an das Jugendamt Olpe, Außenstelle Attendorn, aufgesetzt hat, ist bis heute unklar. Dass es das Kind selbst war, gilt als eher unwahrscheinlich.

Das Kind, um das es hier geht, nennen wir es Lisa, ist zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Offiziell, das glaubte auch das Jugendamt, wohnte das Mädchen damals nicht mehr in Attendorn. In der Akte ist vermerkt, dass die Mutter während eines Sorgerechtsverfahrens im Sommer 2015 mit Lisa überstürzt das Land verlassen habe und zu Verwandten in ein kleines italienisches Dorf in den Bergen Kalabriens umgezogen sei.

Gewohnt hat Lisa aberoffenbar in all den Jahren in Attendorn, mit der Mutter im Haus der Großeltern, sozial isoliert, ohne Kita, ohne Schule, ohne Kontakt zur Außenwelt. Trotz dieses und weiterer anonymer Hinweise, die das Jugendamt in den Monaten darauf erhält, wird es weitere zwei Jahre dauern, bis das Mädchen am 23. September 2022 aus dem Haus befreit wird, in dem es mutmaßlich fast sein ganzes Leben lang festgehalten wurde. Etwa 900 Meter vom Rathaus Attendorn entfernt.

Fall Attendorn: Auch gegen Mitarbeitende des Jugendamts wird ermittelt

Das Mädchen lebt inzwischen bei einer Pflegefamilie. Gegen Mutter und Großeltern ermittet die Staatsanwaltschaft Siegen wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung Schutzbefohlener. Auch das Jugendamt ist rasch ins Visier der Behörde geraten. Laut Bericht des Ministeriums leitete die Staatsanwaltschaft bereits fünf Tage nach der Befreiung ein Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeitende des Jugendamts ein. Der Vorwurf: Anfangsverdacht der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassung. Am 30. September durchsuchen die Ermittler Räume des Jugendamts und beschlagnahmen Akten.

Der Fall beschäftigt nun auch die Politik. Am Donnerstag debattierte zuerst der Familien-, kurz darauf nicht-öffentlich auch der Innenausschuss im Landtag darüber, was in der Bearbeitung dieses Falls schiefgelaufen ist. Der Bericht des Innenministers für die Ausschusssitzung, legt nahe, dass es im Umgang mit dem Fall beim Jugendamt schwere Versäumnisse gegeben hat. Besonders bemerkenswert ist ein Vorfall aus dem Oktober 2021. Wieder ging im Jugendamt ein anonymer Hinweis ein, diesmal telefonisch, es ist bis dahin der dritte.

Danach wendete sich eine Mitarbeiterin erstmals an die Polizei, um die Möglichkeit einer Hausdurchsuchung prüfen zu lassen. Dem Papier zufolge erzählte sie einer Polizistin am Telefon nur von einem „ominösen Hinweis“, wonach in Attendorn seit längerer Zeit ein Mädchen wohne, welches das Haus nicht verlassen dürfe.

Eingesperrtes Mädchen: Sorgerechtsstreit ließ Jugendamt unerwähnt

Die anderen anonymen Hinweise sowie den Sorgerechtsstreit im Jahr 2015 aber ließ sie laut Gedächtnisprotokoll der Polizeibeamtin unerwähnt. Dabei hätte gerade das Gerichtsverfahren die Polizei womöglich aufhorchen lassen. Damals, kurz nachdem Mutter und Tochter angeblich nach Italien gezogen waren, hatte der Vater bei Gericht das geteilte Sorgerecht beantragt und auf Empfehlung des Jugendamts auch zugesprochen bekommen.

Schon damals äußerte der Anwalt des Vaters dem Gericht gegenüber Zweifel an dem Umzug, da Lisas Großmutter in Attendorn auch danach noch beim Windeleinkauf beobachtet worden sei. Das Gericht schickte der Mutter ein Schreiben mit Fragen zu den neuen Lebensbedingungen an die italienische Adresse. Es blieb unbeantwortet.

Für eine umfassende Bewertung des Falls durch die Polizei wären gerade diese Informationen womöglich entscheidend gewesen. Zudem, so steht es im Bericht des Innenministeriums, habe die Mitarbeiterin auf Nachfrage der Polizistin eingeräumt, selbst noch keinerlei Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen, nicht einmal Kontakt mit der Familie aufgenommen zu haben. Die Polizei winkte daher ab.

Dieser eine Hinweis sei zu wenig, um daraus den Anfangsverdacht einer Straftat zu begründen. Das Amt sei gebeten worden, erstmal „eine Schriftlage zu schaffen“ und sich dann wieder zu melden. Das, so erinnert die Polizistin laut Bericht, sei nicht mehr geschehen.

Mädchen im Sauerland über Jahre eingesperrt: Behörde hat Fehler eingeräumt

Einige Fehler hat die Behörde inzwischen eingestanden. Standards wie die Dokumentationspflicht seien mitunter nicht eingehalten worden. So habe eine Mitarbeiterin nach dem ersten anonymen Hinweis im Oktober 2020 zwar die Großeltern aufgesucht, das Ergebnis aber nicht verschriftlich, sondern lediglich den Termin im Kalender vermerkt. Auch zum Austausch mit der Polizei steht nach Informationen dieser Zeitung beim Jugendamt nur: „Die Mitarbeiterin schilderte der Polizei den Sachverhalt.“ Was genau darunter zu verstehen ist, will das Jugendamt zeitnah klären. Eine Dokumentation über das Gespräch gibt es offenbar nicht.

Weitere Fragen türmen sich: Warum hat das Jugendamt erst nach dem letzten anonymen Hinweis im Oktober 2021 versucht, Kontakt zu Lisas Vater aufzunehmen? Warum wurde nicht hinterfragt, wie der Vater Kontakt zu seiner Tochter halten soll, wenn diese in Italien wohnt? Warum ließen sich Mitarbeitende des Amts nach Eingang der Hinweise immer wieder an der Haustür von den Großeltern abwimmeln, statt ein Amtshilfeersuchen an die italienischen Behörden zu stellen? Genau das unternahm das Amt schließlich, allerdings erst nachdem sich im Juli 2022 telefonisch ein Ehepaar aus der Region mit Klarnamen meldete und abermals den Verdacht äußerte, dass ein Kind in Attendorn festgehalten werde.

Andererseits fragt sich Jugendamtsleiter Michael Färber, warum sich denn der Vater in all den Jahren nicht gemeldet habe. Ein Hinweis hätte ausgereicht, um tätig zu werden. Das bringt den Anwalt des Vaters, Jens Sonderkamp, in Rage. „Blanker Zynismus“ sei das, sagt er. „Warum das Amt nach dem ersten anonymen Hinweis die Großeltern, nicht aber den Vater aufsucht, um sich bei ihm nach dem Verbleib zu erkundigen, ist mir vor dem Hintergrund der ganzen Vorgeschichte vollkommen schleierhaft.

Er wäre doch damals schon die erste Adresse gewesen.“ Färber wehrt sich: „Nach den durchgeführten Recherchen und dem Gespräch mit den Großeltern hatte der Bezirkssozialdienst keinen Zweifel, dass Mutter und Tochter tatsächlich in Italien wohnen.“