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Live-RollenspieleLarp – die Lust, ein paar Tage ein anderer zu sein

Lesezeit 6 Minuten

Spieler Tayo in der Gewandung eines Katzenwesens

  1. Auf Burg Bilstein im Sauerland komen jährlich bis zu 200 Menschen für ein Rollenspiel zusammen.
  2. Dabei schlüpfen sie in Rollen wie Mönche, Händler oder Ratten.
  3. Ein paar Tage lang verbringen sie gemeinsam Zeit in einer Parallelwelt, die sie sich selbst schaffen.

Komm schon“, sagt Mercedes Buyala und wuchtet Arantraxus zurück in den Anhänger. Drückt noch einmal gegen den meerblauen Drachenschwanz, made in China, und lässt energisch die Ladeklappe einrasten. In drei Tagen wird „Traxi“ auf Burg Bilstein seinen großen Auftritt haben, dann, wenn die Eishexe kommt und die Guten die Bösen besiegen. Oder auch umgekehrt.

In diesen Tagen wird Burg Bilstein im Sauerland Burg Fjällnasgard heißen, und drüben in der alten Taverne mit den abgeschrammten Hirschgeweihen an der Wand werden Wölfe mit langen Schnauzen an Cola und heißem Kaffee nippen. Fahrende Händler und Mönche in dunklen Kutten werden in einer Ecke eine Runde Skat dreschen, auch wenn das Kartenspiel in Fjällnas vermutlich ganz anders heißt.

Arantraxus hat Ausgang. Der 25 Kilo schwere Drache stammt aus China und  hat eine tragende Rolle im Fantasiespiel.

Und draußen im Hof, wo im Sommer Schulklassen zusammenglucken und heimlich eine Zigarette rauchen, werden ein paar weinende Fjällnaser in hohen Stiefeln die Widerstandskämpfer betrauern, die am Vortag im Kampf gegen die Eishexe gefallen sind.

Bewegung stammt aus Großbritannien

Willkommen in der Anderswelt. Seit 19 Jahren verwandelt sich die Jugendherberge hoch über dem Örtchen Bilstein zum Jahreswechsel in ein Reich der Phantasie. Bis zu 200 Menschen kommen Jahr für Jahr in dem wuchtigen Kasten auf dem Rosenberg zusammen, um drei Tage lang das auszuleben, was ihnen in der realen Welt verwehrt bleibt. Ein – zeitlich begrenztes – Dasein als Heiler oder heilige Frau. Als Magier mit Zauberkräften, Feenkönig oder hässlicher Ork. „Larp“ heißt der Schlüssel zum Kosmos der Wunder und grenzenlosen Abenteuer – Live-Action-Role-Playing. Oder auf deutsch: Live-Rollenspiel.

Es gibt Schriftstücke aus scheinbar sehr alter Zeit.

Die fantastische Bewegung stammt aus Großbritannien und ist beeinflusst von Computerspielen und den Pen-&-Paper-Rollenspielen der 1980er Jahre. Dabei schlüpften die Mitwirkenden im heimischen Wohnzimmer bei Pizza und Bier in fiktive Charaktere und erzählten gemeinsam eine fantastische Geschichte. Larp sei quasi die Fortschreibung der Pen-&-Paper-Spiele, sagt Oliver Hombach vom Twilight-Team, der seit mehr als 20 Jahren gemeinsam mit Mercedes Buyala Larp-Conventions, Zusammentreffen also, organisiert. Statt eine Rolle lediglich zu erzählen, stecke man plötzlich selber mitten im Stück. Theater statt Hörspiel also. „Jede Convention ist einmalig“, ergänzt Mercedes Buyala. „Es ist Generalprobe und Uraufführung in einem.“

Flucht aus der digitalen Welt

In Deutschland begeisterten sich Anfang der 1990er die ersten Fantasy-Fans für die gelebte Anderswelt: Lehrer, Sozialarbeiter, Handwerker, Beamte. „Das geht quer durch alle Schichten.“ Heute umfasst die Szene rund 40.000 Hobbyakteure. Pro Jahr finden mehr als 900 oft mehrtägige Conventions statt. Zu den Großveranstaltungen wie dem „Conquest of Mythodea“ in Brokeloh bei Hannover und dem Drachenfest im hessischen Diemelstadt kommen inzwischen mehrere tausend Teilnehmer.

Mercedes Buyala und Oliver Hombach vom Twilight-Team veranstalten seit mehr als 20 Jahren Live-Rollenspiele.

„In unserer digitalisierten Welt müssen wir immer erreichbar sein. Wir sollen funktionieren und möglichst perfekt sein“, erklärt Mercedes Buyala den Reiz des Rollenspiels. „Hier darf ich auch mal schwach sein. Ich darf Fehler machen. Es hat ja keine Konsequenzen.“ Handys seien verboten während des Spiels. „Das entschleunigt. Man lebt zehn, zwölf Stunden am Tag nur in seiner Rolle und hat eine klar umrissene Aufgabe.“

Zwei Tage dauert es, um Bilstein in die Fantasy-Burg Fjällnasgard zu verwandeln. Die Fenster sind mit Alufolie zugeklebt. Neben der Taverne wird an einer künstlichen Höhle gebaut, aus der im Spiel die Gefolgsleute der Eishexe hervorstürzen werden. Das 16-köpfige Twilight-Team verfügt inzwischen über einen beachtlichen Fundus an Requisiten. Im Erdgeschoss der Burg stapeln sich Kisten mit Tiermasken. Daneben liegen Ritterrüstungen und Tarnanzüge aus Bundeswehrbeständen.

„Es gibt immer einen Bösewicht“

Der Raum „Kurköln“ wird gerade in den „Raum der Neugierde“ umgestaltet. Auf dem Tisch des Alchimisten stehen kleine Töpfe mit glibberig-bunten Salben. „Melkfett mit Lebensmittelfarbe“, erklärt Mercedes Buyala. Auf alt getrimmte Schriftrollen liegen neben spitzen Federkielen und Schriftstücken mit braun verfärbten Rändern. Die Immersion, das Eintauchen in die Fantasiewelt, solle für die Teilnehmer so perfekt wie möglich sein, sagt Oliver Hombach. „Sie sollen die Außenwelt nicht mehr wahrnehmen und völlig in ihrem Charakter und ihrer Welt aufgehen.“

Sozialpädagogin Jenny gehört zur Spielleitung.

Zwei Wochen hat er an dem 60 Seiten starken Drehbuch für die Convention gearbeitet. Setting, Hauptcharaktere, Grundgeschichte. Wie heißt die Burg? Wie heißt das Land? Gibt es einen Bösewicht? Wobei letztere eine eher lässliche Frage ist. „Es gibt immer einen Bösewicht.“ Kurz vor Beginn der Convention werden die rund 50 Nicht-Spieler-Charaktere instruiert. Die freiwilligen Helfer übernehmen unterschiedliche Rollen und sollen den Plot vorantreiben.

Zwei Tage später diskutiert „Monsieur Gilbert Philip“ mit dem Alchemisten im „Raum der Neugierde“ über seine kalten Füße. Fett wolle er, um sie warmzuhalten. „Gott zum Gruße. Ich habe gehört, dass das helfen soll.“ Draußen huscht ein mannsgroßes Tier mit langem Schwanz und spitzer Schnauze Richtung Toilette. „Eine Ratte“, sagt Mercedes Buyala lapidar. „Hier gibt es mehrere davon.“ Unten in der Diele wird gesungen. Knechte und Mägde sitzen zusammen und schlürfen Was-auch-immer aus irdenen Bechern. An der Wand lehnen Schwerter und Hellebarden.

„Sagen Sie bloß nicht Kostüm“

Tayo, Fachkraft für Integration an einer Grundschule im Rheinland, ist heute ein fantastisches Katzenwesen. Sein weiß geschminktes Gesicht ist schwarz getüpfelt wie ein Gepard. Er trägt eine Gewandung – „Sagen Sie bloß nicht Kostüm“ – aus Federn und Fellen und einen langen Holzstab in der Hand.

Noch vor ein paar Jahren habe er sich gefragt, was Rollenspieler für Menschen seien. „Warum macht man so etwas?“ In eine andere Haut schlüpfen. Zeit und Geld dafür investieren. Heute kennt der 33-Jährige die Antwort. „Aus Spaß an der Freude.“ Er habe schon immer „einen Hang zum Außergewöhnlichen“ gehabt, die Katzenwesen finde er „persönlich faszinierend“.

Vivian probiert sich in der Rolle der Priesterin Tabea aus.

Vivian alias Priesterin Tabea ist im realen Leben Regierungsangestellte. Auf Burg Fjällnasgard trägt sie ein weites, mittelalterliches Gewand und eine Gugel, einen kurzen Überwurf mit Kapuze. Auf ihrem Kopf sitzt eine kleine weiße Haube. „Alles selbst genäht“, erklärt sie stolz. Larp sei ein Hobby, bei dem sie ihre Kreativität ausleben könne.

Am Abend gibt es Spaghetti Bolognese

Die 33-Jährige ist mit 30 Freunden und Bekannten zur Convention gekommen. Sie schätze vor allem die ständige Interaktion mit anderen Spielern. „Wir sind ein Orden mit einem religiösen und einem militärischen Zweig. Als Priesterin bin ich für das Seelenheil der Kämpfer zuständig.“ Sie sei zwar nicht sehr religiös, gibt Priesterin Tabea zu. „Aber ich finde es spannend, zu experimentieren und mich in dieser Rolle in einem geschützten Raum auszuprobieren.“ Sie habe sogar schon Gebete geschrieben.

Über Burg Fjällnasgard ist der Abend hereingebrochen. In der Höhle neben der Taverne explodieren kleine Sprengladungen. Musik grollt im Hintergrund, auf dem Burghof formieren sich die verbliebenen Widerstandskämpfer. Endlich brechen die Untoten aus der Dunkelheit hervor. Die Schlacht hat begonnen. Plastikschwerter klatschen auf Plastikhelme, watteweiche Lanzen bohren sich in Bärenfelle.

Eine halbe Stunde später hat das Gute gesiegt. Gleich wird im großen Speisesaal das Abendessen serviert. Es gibt Spaghetti Bolognese.