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Die AufrechteWie der Fall Gisèle Pelicot Frankreich verändert

Lesezeit 8 Minuten
Gisele Pelicot speaks to media as she leaves the Avignon court house, southern France, Thursday, Sept. 5, 2024. A woman allegedly drugged by her ex-husband so that she could be raped by other men while she laid unconscious, is expected to testify before a panel of French judges. (AP Photo/Lewis Joly)

Gisèle Pelicot versteckt sich nicht.

Dutzende Männer sollen Gisèle Pelicot missbraucht haben, nachdem ihr Ehemann sie mit Medikamenten betäubt hatte. Sie tritt bewusst in die Öffentlichkeit: „Damit die Schande die Seiten wechselt.“

Ihre Sonnenbrille mit den runden Gläsern trägt sie nur noch selten, wenn sie jeden Morgen eiligen Schrittes das Gerichtsgebäude in Avignon betritt. Gisèle Pelicot verdeckt ihre Augen nicht mehr; sie versteckt sich nicht, trotz allem, was ihr widerfahren ist. Nicht sie hat sich zu schämen – sie als das Opfer, das jahrelang von ihrem Ehemann Dominique Pelicot, von dem sie inzwischen geschieden ist, medikamentös betäubt und im eigenen Schlafzimmer von Dutzenden fremden Männern vergewaltigt wurde.

Zu schämen haben sich die Täter. Viele der 51 Angeklagten verbergen ihre Gesichter hinter Schutzmasken, ziehen ihre Kapuzen tief ins Gesicht. Gisèle Pelicot, stets elegant gekleidet, hält sich aufrecht.

Gisèle Pelicot stellt sich diesem Prozess, der seit seinem Beginn Anfang September viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Medienvertreter aus der ganzen Welt und viele Menschen aus der Region verfolgen ihn vor Ort. Manche reihen sich frühmorgens in eine Schlange vor dem Gericht, um einen der 60 Plätze im Übertragungssaal zu ergattern. Überwiegend Frauen sind im Publikum. Von Journalisten befragt, sagen die meisten, sie kämen, um zu verstehen, wie solche Taten möglich sind. Und vor allem: „Um Gisèle Pelicot zu unterstützen.“

Applaus im Gerichtsgebäude

Die zierliche 71-Jährige ist in Frankreich zu einer Ikone im Kampf gegen sexuelle Gewalt geworden. Dabei äußert sie sich kaum in den Medien. Eine Ausnahme machte sie, nachdem an einem Wochenende im September Demonstranten bei Kundgebungen „gegen die Kultur der Vergewaltigung“ in mehreren französischen Städten ihre Solidarität ausdrückten. Vor laufenden Kameras las sie von einem Zettel Dankesworte ab. „Ich bin zutiefst berührt von dieser Bewegung, die mir eine Verantwortung überträgt“, sagte Gisèle Pelicot. „Dank euch allen habe ich die Kraft, diesen Kampf bis zum Ende zu führen.“ Er gelte allen Opfern von sexueller Gewalt.

Erscheint sie am Gericht, brandet Applaus auf. Die Rentnerin nickt dann den klatschenden Menschen lächelnd zu, faltet die Hände zum Dank. Manche nähern sich ihr, um sie zu umarmen oder ihr einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken. Am Mittwochmorgen sang ein feministischer Frauenchor vor dem Gericht das chilenische Lied „Canción sin miedo“, „Gesang ohne Angst“.

Gegen den Willen der meisten Verteidiger hat sich Gisèle Pelicot mit ihrem Wunsch durchgesetzt, dass der Prozess öffentlich ist und Videos und Fotos von den Vergewaltigungen gezeigt werden. Vor jeder Projektion werden sensible Personen und Minderjährige dazu aufgefordert, den Saal zu verlassen. Die Aufnahmen sind unerträglich und doch laut Gisèle Pelicots Anwälten unerlässlich, um jene Angeklagten zu widerlegen, die sich herauszureden versuchen. Und um zu zeigen, dass eine Vergewaltigung nicht unbedingt ein brutaler Überfall in einem dunklen Park sein muss, sondern auch eine minutiös vorbereitete und anschließend vertuschte Tat im privaten Umfeld des Opfers sein kann.

Mindestens neun Jahre holte Dominique Pelicot regelmäßig fremde Männer in das Haus im südfranzösischen Örtchen Mazan, wo er mit seiner Frau die Rente verbrachte. Gemeinsam vergingen sie sich an ihr. Er kontaktierte sie über die Internetseite Coco.fr, die erst vor Kurzem verboten wurde. Die Taten filmte er, was diesen Prozess erst ermöglichte und die Beweislast so erdrückend macht. Im Herbst 2020 war der Rentner in einem Supermarkt erwischt worden, als er Frauen unter den Rock filmte.

Bei der Untersuchung seiner Handys, Computer und Festplatten stießen die Ermittler auf Tausende Videos und Fotos vom schweren Missbrauch seiner bewusstlosen Frau. Das Material gehörte zum Schlimmsten, was er bisher gesehen habe – und er sehe viel Schlimmes, sagte ein Polizist gegenüber der französischen Presse.

All die Jahre sah Dominique Pelicot mit an, wie seine Frau unter den Folgen der Medikamente litt, an Gedächtnisverlust, Schlafstörungen, aber auch gynäkologischen Problemen. Für die drei erwachsenen Kinder wurde es immer schwieriger, ihre Mutter zu erreichen, da systematisch er ans Telefon ging. Sie sei müde, sagte er. Es strenge sie zu sehr an, sich um die Enkel bei Paris zu kümmern, wie sie es regelmäßig tat, während er in Mazan blieb. „Er hat das behauptet, um sie unter seinem Joch zu halten“, sagte Pierre P., sein Schwiegersohn, vor Gericht. Warum niemand in der Familie bemerkt hat, was vor sich ging? „Wie soll man sich das Unvorstellbare vorstellen?“, fragte er zurück.

Die Konfrontation mit seinen Angehörigen sind die wenigen Momente, in denen der Hauptangeklagte emotional wirkt, den Kopf in seine Hände legt. Ansonsten tritt Dominique Pelicot selbstsicher auf und lässt keine Gelegenheit aus, die anderen zu belasten. Er selbst hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. „Ich bin ein Vergewaltiger, wie alle hier in diesem Saal“, verkündete er.

51 Männer auf der Anklagebank

Allein durch die Zahl der Angeklagten handelt es sich um einen Mammutprozess. Die Verhandlung ist auf mehr als drei Monate angesetzt und läuft noch bis Mitte Dezember. Ins Auge sticht die vermeintliche Normalität der Männer auf der Anklagebank. Sie sind heute zwischen 26 und 74 Jahre alt und von Beruf Krankenpfleger, Fernfahrer oder Feuerwehrmann. Viele galten bislang als „brave Familienväter“, wie der Hauptangeklagte auch. Doch etliche berichten von traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit. Sie wurden geschlagen, missbraucht oder von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht. Einige der Männer waren der Polizei bereits bekannt, unter anderem wegen Gewalt gegen Frauen. Bei manchen wurde kinderpornografisches Material gefunden.

35 der 51 Angeklagten weisen den Vorwurf der Vergewaltigung zurück. Sie bejahen die Frage, ob sie die Tatsachen anerkennen – es gibt ja die Videos. Aber es habe sich nicht um Absicht gehandelt, versichern viele. „Ich bin doch kein Vergewaltiger“, sagte Husamettin D. „Ich habe Frauen immer respektiert“, so Jacques C. Einige rechtfertigen sich, sie hätten ja das Einverständnis des Ehemannes gehabt. Sie glaubten, es handle sich um ein Sexspiel, Gisèle Pelicot werde gleich aufwachen – obwohl sie leblos dalag oder laut schnarchte. Fast alle sehen sich selbst als Opfer: Sie seien in die Falle eines Perversen gegangen, hätten nur nicht genug nachgedacht oder Angst vor Dominique Pelicot gehabt. „Er war ganz rot im Gesicht, ich war angsterfüllt“, sagte der Pfleger Redouan E. „Ich wollte ihn nicht frustrieren, also spielte ich den guten Schüler.“

Der Prozess zeige, dass „viele Männer noch nicht verstanden haben, was eine Vergewaltigung ist und was Einverständnis bedeutet“, sagt die sozialistische Senatorin Laurence Rossignol, die sich seit Jahren im Kampf gegen sexuelle Gewalt engagiert. Der Schock in der französischen Gesellschaft angesichts der Enthüllungen sei auch so groß, weil die Menschen erkennen, „dass Vergewaltiger nach außen keine Monster sind, sondern ihre Nachbarn“. Die allermeisten Fälle geschehen im familiären Umfeld oder im Bekanntenkreis, betont sie.

Deshalb hat der Prozess etwas angestoßen in Frankreich. Dort kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu aufsehenerregenden Vorwürfen von Frauen wegen sexueller Gewalt. Doch sie betrafen meist Berühmtheiten aus einer abgehoben scheinenden Welt. Der Schauspieler Gérard Depardieu muss sich demnächst wegen Vergewaltigung vor Gericht verantworten. Vor einigen Monaten ging die Schauspielerin Judith Godrèche mit schweren Anschuldigungen gegen mehrere Regisseure an die Öffentlichkeit, denen sich Kolleginnen aus dem Kinomilieu anschlossen. Zuletzt warfen Enthüllungen über sexuellen Missbrauch ein dunkles Licht auf den 2007 verstorbenen Geistlichen Abbé Pierre, den bislang so verehrten Gründer von Wohltätigkeitsorganisationen.

In Avignon aber geht es um „Normalos“, die das Angebot, sich in räumlicher Nähe gratis an einem wehrlosen Frauenkörper zu vergehen, nicht ausschlugen. Die sich auch keine weiteren Fragen über ihr eigenes Tun oder die Folgen für das Opfer stellten. Die nicht auf die Idee kamen, die Polizei zu verständigen. Das galt auch für den einzigen Mann, der zwar nach Mazan kam, aber beim Anblick der bewusstlosen Frau gleich wieder ging.

„Anhand von diesem Fall lässt sich aufzeigen, wie systematisch das Patriarchat funktioniert“, sagt die Autorin, Journalistin und Herausgeberin des feministischen Onlinemagazins „Medusablätter“, Cécile Calla. „Das bedeutet nicht, dass alle Männer Vergewaltiger sind, aber es zeigt, dass immer noch die Haltung verbreitet ist, dass Männer über den Körper der Frauen verfügen können.“ Die #MeToo-Bewegung in Frankreich erhalte nun „neuen Sauerstoff“. Sie hoffe, dass sich anders als bisher mehr Männer an den Debatten und Kundgebungen beteiligen.

Opfer mit Heldenstatus

Dafür gebe es zumindest Anzeichen. „Bisher war es immer sehr enttäuschend zu sehen, dass es so schien, als handele es sich um ein Frauenthema oder -problem, dabei geht es alle an“, so Calla. Wichtig sei auch die Transparenz und Offenheit von Gisèle Pelicot, die dem Vorwurf entgegentrete, dass bei sexueller Gewalt gegen Frauen diese immer einen Teil der Verantwortung tragen. „Sie zeigt klar, dass sie sich nichts vorzuwerfen hat.“ In Prozessen wegen Vergewaltigung müsse sich oft das Opfer rechtfertigen, so, als trage es irgendeine Mitschuld.

Einer der Verteidiger, Patrick Gontard, beklagte seine schwierige Arbeit aufgrund von Gisèle Pelicots Heldenstatus: „Sie wird verherrlicht und es ist schwer, sie anzugreifen.“ Manche versuchten es trotzdem, wie der Anwalt Philippe Kaboré mit der Frage, ob sie nicht „ein wenig exhibitionistisch“ veranlagt sei, weil es Nacktfotos von ihr gab – die ihr Mann heimlich von ihr aufgenommen hatte. Dagegen erhob sie die Stimme. Sie verstehe alle Vergewaltigungsopfer, die nicht Klage einreichen, sagte sie aufgebracht. „Seit ich diesen Gerichtssaal betreten habe, fühle ich mich erniedrigt.“

Diese Aussage haben Aktivistinnen der Vereinigung „Die Amazonen von Avignon“ später groß auf eine Mauer in der südfranzösischen Stadt geschrieben. Gisèle Pelicot ließ sich davor fotografieren. Im Pariser Vorort Gentilly ziert eine Freske eine Wand, die ein Abbild von ihr mit dem charakteristischen rötlichen Pagenkopf und ihrer Sonnenbrille zeigt, daneben der Satz: „Damit die Schande die Seite wechselt.“ Es klingt wie ein Slogan, der so oft wiederholt werden muss, bis er Eingang in die Köpfe findet.