Ein acht Jahre altes Mädchen soll fast sein gesamtes Leben lang in einem Haus im Sauerland festgehalten worden sein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Mutter und die Großeltern. Hinweise darauf, dass die Familie nicht wie angegeben in Italien lebte, gab es mehrfach.
Mädchen in AttendornPolizei blockte Hausdurchsuchung ab
Michael Färber wirkt fassungslos. „Das sprengt alles Vorstellbare“, sagt der Jugendamtsleiter des Kreises Olpe im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Am Montag eilt der leitende Kommunalbeamte von einem Interview zum nächsten. Färber soll erklären, was schwer zu erklären ist. Seit dem Jahr 2015 hielt eine Mutter allem Anschein nach ihre kleine Tochter wie eine Gefangene in der Wohnung ihrer Eltern im sauerländischen Attendorn und die Behörden haben es all die Jahre nicht bemerkt. Offiziell hatte sich die Frau mit ihrem Kind abgemeldet und war zu Verwandten in einen Ort in Kalabrien verzogen. Die Familie stammt aus Süditalien. Tatsächlich aber versteckte sich die Mutter mit ihrer Tochter in der Wohnung der Großeltern.
Am 23. September erwirkte die Jugendbehörde mittels einer Gefährdungsmitteilung eine Durchsuchung der Wohnung. Als die Polizei sich Zugang zu den Räumen verschaffte, kam ihnen das heute achtjährige Mädchen entgegen. Es schien den Umständen entsprechend wohlauf zu sein, einzig die Bewegungsabläufe etwa beim Treppensteigen wirkten eingeschränkt.
Einen ersten Hinweis auf das eingesperrte Mädchen in Attendorn gab es schon 2020
Damit endete ein siebenjähriges Martyrium, das nun durch Justiz und das zuständige Jugendamt aufgearbeitet wird. Behördenchef Färber will „alle Prozessabläufe überprüfen, um zu klären, warum wir nicht früher gehandelt haben“. Denn eines scheint klar zu sein: Schon 2020 lagen zwei anonyme Hinweise vor, dass sich Mutter und Tochter nach wie vor im Hause der Großeltern aufhielten. Nach Angaben Färbers sei der Bezirksdienst seiner Behörde auch tätig geworden.
Bei einem Hausbesuch habe die Großmutter des Mädchens beteuert, dass sich ihre Tochter nebst Enkelin an besagter Adresse in Italien aufhalte. Die Jugendamtsmitarbeiter wurden zwar nicht hereingebeten, aber ein Blick von der Haustür in den Flur habe keinerlei Hinweise auf Spielzeug oder das Mädchen ergeben. Auch habe man Nachbarn befragt, bei Kindergärten in der Nähe nachgehakt, selbst bei der Krankenkasse wurden Nachforschungen angestellt – alles erfolglos.
Im Jahr darauf berichtete erneut ein Anonymus, dass Mutter und Kind im Haus der Großeltern lebten. Dieses Mal setzte sich der Bezirksdienst mit der Polizei zusammen, um den Fall zu erörtern. Laut Amtsleiter Färber habe man eine Durchsuchung der großelterlichen Wohnung angeregt. Doch die Polizei habe mit dem Hinweis abgewinkt, dass die Indizien nicht für einen richterlichen Beschluss ausreichen würden.
Verwandte gaben den Hinweis, der zum Durchbruch in Attendorn führte
Erst im Juni 2022 gelang der Durchbruch. Ein Verwandter der mütterlichen Familienseite wandte sich an die Polizei. Er gab an, dass seine Ehefrau und er kürzlich die Verwandtschaft in Italien besucht hätten. Dort aber fand sich kein Lebenszeichen von Mutter und Tochter. Die Verwandten hätten gesagt, dass beide dort nie gelebt hätten. Zudem habe man die Mutter des Mädchens telefonisch im Haus der Großeltern in Attendorn erreicht.
Das Jugendamt wollte nun auf Nummer sicher gehen. Umgehend richtete man über das Bundesamt für Justiz ein Rechtshilfeersuchen an die italienischen Behörden, um herauszufinden, ob die Gesuchten tatsächlich in Kalabrien lebten. Am 12. September ging die Nachricht ein, dass es sich um eine Scheinadresse handelte. Elf Tage später erfolgte die Durchsuchung.
Verstecktes Mädchen in Attendorn: Verdacht auf Freiheitsberaubung
Das Mädchen wurde sofort in einer Pflegefamilie untergebracht. Gegen Mutter und Großeltern ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder eine Unterernährung des Mädchens gebe es momentan nicht, sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss dieser Zeitung. „Allerdings bleiben weitere Untersuchungen abzuwarten, auch stellt sich die Frage nach den psychischen Folgen, wenn man jahrelang von der Außenwelt abgeschnitten war.“
Die Beschuldigten befinden sich nach wie vor auf freiem Fuß, da nach Angaben des Oberstaatsanwalts entsprechende Haftgründe fehlten. „Bisher haben Mutter und Großeltern sich nicht zur Sache eingelassen“, berichtete von Grotthuss. Das Mädchen sei ebenfalls noch nicht befragt worden.
Folglich suchen die Ermittler noch nach dem Motiv für die Tat. Eine Spur führt zum Sorgerechtstreit im Jahr 2015/2016. Gegen den Willen der Ex-Partnerin sprach das Familiengericht dem Kindsvater ebenfalls ein Umgangsrecht zu. In dem Verfahren hatte die Mutter bereits die Wohnadresse in Kalabrien angegeben. Zum Richterspruch war sie dann auch nicht mehr erschienen. Bereits in der mündlichen Verhandlung vermutete der Anwalt des Vaters, dass es sich um eine Scheinadresse handelte. Allerdings geschah nichts weiter.
NRW-Landtag wird sich mit dem Fall befassen – SPD fordert Bericht
Obschon sich die Elternteile das Sorgerecht nun teilten, intervenierte der Kindsvater nicht, als seine Ex-Freundin mit der Tochter angeblich nach Italien zog. Für Jugendamtsleiter Färber eine der vielen Fragen in dem Fall, die nach einer Antwort suchen: „Warum hat der Kindsvater dies zugelassen?“
Der Fall wird am 17. November auch Thema im Düsseldorfer Landtag sein. Die SPD-Fraktion hat einen Bericht der Landesregierung für den kommenden Familienausschuss beantragt.
Derzeit aber stehe vor allem das Kindeswohl im Vordergrund. Das Mädchen muss wohl zu Hause unterrichtet worden sein. Offenbar kann es lesen, rechnen und schreiben. Allerdings müsse man das Kind behutsam an die Außenwelt heranführen, an fremde Menschen und Kinder, führt Färber aus. „Das gilt auch für den Besuch einer Schule.“