Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat eine unfassbare Dimension. In der Kälte und bei Nieselregen suchen Trupps nach Überlebenden.
Erdbeben in der TürkeiVor Ort in Diyarbakir – „Warum retten sie nicht meinen Sohn?“
Mehr als 30 Stunden sind seit dem Erdbeben vergangen, aber Yusuf und Nevriye Dayan geben die Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und ihre beiden Enkel in den Trümmern noch am Leben sind. „Mein Sohn, warum retten sie nicht meinen Sohn?“, klagt die 68 Jahre alte Mutter unter Tränen. Am Dienstagmorgen sind in dem teils kollabierten Gebäude noch drei Überlebende geborgen worden.
Jetzt ist beinahe Mittag, hier in Diyarbakir regnet es bei Temperaturen um vier Grad. In der Nacht hat Frost in der südosttürkischen Kurdenmetropole geherrscht. Erschöpft wirkende Rettungskräfte sagen, sie würden weiterhin Hilferufe von Verschütteten hören.
300 Kilometer vom Epizentrum entfernt – und dennoch heftige Zerstörung
Die verzweifelten Angehörigen, die hinter der Polizeiabsperrung auf Nachrichten warten, können die Rettungskräfte bei der Arbeit im Haus beobachten. Das einst fünfstöckige Gebäude, das Schräglage wie ein Betrunkener hat, hat keine Außenwand mehr. Von der Straße aus kann man Sofas, Sessel und Vitrinen in den höher gelegenen Wohnzimmern sehen. Die unteren Stockwerke sind durch das Gewicht der oberen Etagen zusammengedrückt worden.
Das erste verheerende Erdbeben mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala erschütterte die Südosttürkei am Montagmorgen um 4.17 Uhr, seitdem lassen Nachbeben die Menschen nicht zur Ruhe kommen. Das Epizentrum lag Luftlinie rund 300 Kilometer von Diyarbakir entfernt.
In näher gelegenen Städten wie Gaziantep oder Hatay hat das Beben weitaus stärkere Zerstörung angerichtet als in Diyarbakir. Dass allerdings selbst dort Gebäude eingestürzt sind, lässt erahnen, was für eine Wucht die Erdstöße hatten, von denen die Menschen in Diyarbakir mit Entsetzen berichten. Unisono sagen sie, so etwas hätten sie noch nie erlebt.
90 Vermisste in nur einem Gebäude
In der Nähe der Ruine, vor der die Dayans ausharren, ist ein achtstöckiger Wohnblock ganz in sich zusammengestürzt, das Beben hat die Menschen auch hier im Schlaf überrascht. Von dem Gebäude ist nur ein Trümmerberg geblieben, es fällt schwer zu glauben, dass in dem Schutt jemand überlebt haben könnte. Dutzende Angehörige haben sich versammelt, sie berichten von mindestens 90 Vermissten. Sie sagen außerdem, das Gebäude sei nur etwas über 20 Jahre alt gewesen und habe eigentlich als erdbebensicher gegolten. Ein verheerender Trugschluss, wie sich nun herausstellt.
Zahlreiche Gebäude in Diyarbakir sind zwar nicht zusammengebrochen, aber beschädigt worden. Etliche Menschen trauen sich bei eisigen Temperaturen nicht in ihre Wohnungen zurück. Das Gemeindezentrum der Stadt ist zur Notunterkunft geworden, rund 1000 Menschen sind hier untergekommen. Helferinnen und Helfer geben Suppe aus.
Nachts seien nicht nur die einzelnen Räume, sondern auch die Korridore voll mit schlafenden Menschen, sagt Tahsin Selcuk, der mit seiner Ehefrau, seinen drei Kindern und seiner Mutter hier Zuflucht gesucht hat. „Letzte Nacht war es so voll, dass manche ihren Kopf auf den Bauch von anderen Menschen legen mussten.“
Frauen und Kinder schlafen in Zelten, die Männer in einem Auto
Der 60-Jährige sagt, er habe Angst, nach Hause zu gehen. „So hat das Gebäude bei dem Beben gewackelt“, sagt Selcuk und schwenkt dabei seine Hände weit nach links und rechts. „Es ist nicht zusammengebrochen, aber fast.“ Seine 85 Jahre alte Mutter könne nicht mehr laufen. „Ich habe sie auf meinem Rücken hierhin getragen.“
Die Familie hat sich in einer Ecke auf der Bühne in dem kleinen Kinosaal des Gemeindezentrums eingerichtet. Auf einigen der roten Kinositze dösen Menschen, andere spielen auf ihren Smartphones. Immerhin gibt es hier Strom und Heizung, und inzwischen funktioniert auch das Mobilfunknetz in Diyarbakir wieder.
Nicht alle haben noch Platz in dem Gemeindezentrum gefunden. Auf der Wiese davor, die zur Schlammwüste geworden ist, hat die Katastrophenschutzbehörde Afad Zelte aufgebaut. Die Familie von Sedat Aktekin hat sich aufgeteilt, Frauen und Kinder hätten im Zelt geschlafen, die Männer im Auto, sagt das 72-jährige Oberhaupt. „Es war kalt.“
Die Ladefläche des Kombis dient an diesem Mittag als Spielwiese für die kleinsten der Kinder. Ein paar Meter entfernt spielen die Kinder von Cicek Kaya (40). Zu zehnt hätten sie im Zelt geschlafen, sagt sie, und zeigt das karge Innere. In ihrer Panik hat die Familie so gut wie nichts mitgenommen. Auf dem Zeltboden liegt Karton, der gegen die Kälte von unten isolieren soll. Kaya sagt, Helferinnen und Helfer hätten versprochen, Heizgeräte zu bringen.
„Wir sind traumatisiert. Es ist alles so schnell gegangen.“
Zu den vielen Menschen in Diyarbakir, die nicht wissen, wie es weitergeht, gehören auch Yankana Kipemba Kafumakache und seine fünf Kommilitoninnen und Kommilitonen aus Sambia. Für die Studenten an der Universität in Diyarbakir hätte am Dienstag das Sommersemester anfangen sollen. Der Start sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden, sagt Kafumakache, der Bauingenieur werden will. So etwas wie das Beben vom Montagmorgen kenne man in Sambia nicht.
„Wir sind traumatisiert“, sagt der 22-Jährige. „Es ist alles so schnell gegangen. Wir haben gehört, wie Menschen geschrien haben, und sind geflohen.“ In ihrer Unterkunft hätten die Wände seit dem Beben Risse, dorthin könnten sie nicht zurück. Vergangene Nacht hätten sie im Gemeindezentrum verbracht. Ob sie jetzt überlegen würden, nach Sambia zurückzukehren? „Auf keinen Fall“, sagt Kafumakache. „Wir stehen an der Seite des türkischen Volkes. Wir kämpfen uns da durch.“