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Mädchen gestehen Tat in FreudenbergSteigt die Zahl der Morde durch Jugendliche?

Lesezeit 5 Minuten
In der evangelischen Kirche von Freudenberg liegt ein Kondolenzbuch für das getötete Mädchen Luise aus, in das sich Bürger einschreiben.

In der evangelischen Kirche von Freudenberg liegt ein Kondolenzbuch für das getötete Mädchen Luise aus, in das sich Bürger einschreiben.

Der Fall der getöteten Zwölfjährigen Luise erschüttert, die Kriminalstatistik aber zeigt: Die Zahl von Tötungsdelikten mit minderjährigen Tatverdächtigen ist zuletzt deutlich gestiegen.

Sie treffen Freunde und Freundinnen, gehen Radfahren, schwimmen, spielen Fußball oder hören Musik. Kinder, Jugendliche, irgendwo dazwischen. In Hohenhain aber nahmen am Samstagabend zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre alt, mutmaßlich ein Messer und stachen ein anderes Kind nieder. „Mehrere Stichverletzungen“ hatte die zwölfjährige Luise, als sie gefunden wurde. Das Kind war tot. Getötet vermutlich durch zwei Bekannte, die die Tat gestanden haben, aber nicht wegen Mordes oder Totschlags belangt werden können – weil sie noch keine 14 Jahre und damit strafunmündig sind.

„Jugendliche sind impulsiver, die hormonellen Veränderungen gerade in der Pubertät lassen die Aggressionsneigung zunehmen“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). In der Regel handele es sich aber nicht um schwere Gewalttaten, diese seien nur sehr selten. „Dass zwei Mädchen in diesem Alter ein anderes Mädchen erstechen, das habe ich in 40 Jahren noch nicht erlebt“, sagt Remschmidt, der zwei Bücher über Tötungsdelikte von Kindern und Jugendlichen geschrieben hat.

Seiner Erfahrung nach wird die Motivsuche wichtig: „Dass sie einfach so, ohne Vorgeschichte, getötet haben, nur, weil sie jemanden sterben sehen wollten, ist außerordentlich unwahrscheinlich.“

Minderjährige Verdächtige: Das Gesetz sieht besonderen Schutz vor

Immer wieder kommt es zu Fällen, in denen Kinder und Jugendliche töten. Im Januar wird der 14-jährige Jan von einem Nachbarsjungen in Wunstorf mit einem Stein getötet. 2022 stirbt Anastasia (15) in Salzgitter durch zwei Mitschüler, einer davon mit 13 Jahren strafunmündig. 2021 wird Sinan (13) in Sinsheim durch den Bekannten einer Freundin getötet, 2019 ein dreijähriger Junge in Detmold durch seine Halbschwester, 2018 Keira (14) in Berlin durch einen Mitschüler, Aaliyha (15) in Dortmund durch eine Bekannte und in Lünen ein 14-Jähriger durch einen Mitschüler, 2017 Mia (15) in Kandel durch ihren Ex-Freund, 2016 Fabian (13) in Bad Schmiedeberg durch einen gleichaltrigen, also strafunmündigen, Mitschüler.

Wenig erfährt die Öffentlichkeit in solchen Fällen zum Motiv, zum Tathergang, zur Beziehung von Opfer und mutmaßlichen Täterinnen, zu den Kindern und Jugendlichen und deren Umfeld, ob sie zuvor schon einmal durch Straftaten aufgefallen worden waren. Das deutsche Strafrecht sieht vor, dass Kinder unter 14 Jahren nicht strafrechtlich belangt werden können, im Jugendstrafrecht selbst gilt der Erziehungsgedanke, nicht die Bestrafung. So wird die Öffentlichkeit zum Schutze der Kinder und Jugendlichen von Verfahren ausgeschlossen, um die Anonymität zu wahren.

Fall Luise: Diskussion um Strafmündigkeit

Durch Fälle wie nun in Freudenberg/Hohenhain kommt die Diskussion um die Strafmündigkeit auf. Sollten Kinder schon mit zwölf, 13 Jahren für Delikte und Verbrechen belangt werden können? „In der Wissenschaft ist umstritten, ob Kinder und Jugendliche in diesem Alter eine exakte Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes haben“, sagt Remschmidt. „Es besteht die Möglichkeit, dass sie es nicht voll begreifen.“ Deshalb setzt er sich dafür ein, dass das Alter für die Strafmündigkeit bei 14 Jahren bleibt. „Das moralische Bewusstsein wird erst im Laufe der Jahre durch die Erziehung und die Gesellschaft entwickelt“, sagt der Psychiater.

Auch wenn die mit Abstand meisten Tötungsdelikte durch Erwachsene begangenen werden, zeigt die Statistik des Bundeskriminalamtes von 2021 auch: Die Zahl der minderjährigen Tatverdächtigen im Bereich Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen stieg zuletzt, nachdem sie zuvor zurückgegangen war.

Die Anzahl der strafunmündigen Tatverdächtigen erhöhte sich von 11 im Jahr 2020 auf 19 im Jahr 2021 (fünf Mädchen, 14 Jungen), bei den 14- bis 18-Jährigen von 140 auf 173, wobei elf davon weiblich sind. Für das vergangene Jahr gibt es noch keine Auswertung. In der Schweiz zeigt sich ein ähnliches Bild: 2017 griffen drei Minderjährige zu Messern, um andere zu verletzen oder zu töten, 2020 waren es bereits 36, wie „20min.ch“ auf Basis der Kriminalstatistik berichtete.

Jungen neigen eher zu Straftaten als Mädchen

Solche Statistiken seien schwierig, sagt Remschmidt, denn erfasst würden nur Tatverdächtige, nicht tatsächlich verurteilte Täterinnen und Täter. Unklar sei zudem, ob es zuletzt wegen Faktoren wie beispielsweise der Corona-Pandemie zu einem höheren Aggressionspotenzial kam. „Mir ist keine Studie bekannt, die belegt, dass die Gewaltbereitschaft deutlich gestiegen ist“, sagt Remschmidt. Was allerdings wissenschaftlich erwiesen ist: Jungen werden häufiger kriminell als Mädchen, sie töten auch öfter. Und: Jugendliche und junge Erwachsene bis 26 Jahre neigen eher zur Gewalt als jüngere oder ältere. Das habe biologische Gründe, sagt Remschmidt, vor allem die Sexualhormone spielten eine Rolle.

Wenn Kinder und Jugendliche morden: Die Suche nach dem Motiv

Nebst biologischen Ursachen spielt häufig die Erziehung eine große Rolle. Wer in der eigenen Familie Gewalt erlebt, wird häufiger auch anderen gegenüber gewalttätig, da Gewalt als legitimes Mittel angesehen wird. Doch es gibt darüber hinaus Motive, die sich auch bei Erwachsenen finden: Es geht um Eifersucht, Mobbing, Neugierde, selten um Geld. „Man kann eine Tat nicht unabhängig vom Motiv sehen“, sagt Remschmidt. So seien unter Kindern und Jugendlichen Taten häufig reaktionär, beispielsweise als Reaktion auf Mobbing-Erfahrungen oder Ungerechtbehandlung.

Generell, sagte Kriminalpsychologe Rudolf Egg der „Welt“, sei das Gewaltpotenzial bei Minderjährigen größer als bei Erwachsenen. Das habe mit „einer gewissen Unreife“ und „unterschiedlichen Lebensweisen“ zu tun. So hätten Schülerinnen und Schüler, die bei den Eltern leben, weniger zu verlieren als Erwachsene, die im Berufsleben stehen und eine Familie haben. „Man spricht von Risiko- und Schutzfaktoren“, sagte Egg der „Welt“. „Risikofaktoren sind bei Jugendlichen eine lockere Lebensweise und eine erhöhte Impulsivität. Schutzfaktoren sind die Familie, Menschen, mit denen man seine Probleme besprechen kann. Wenn das fehlt, ist das Risiko erhöht.“

Fall Luise: Jugendamt nimmt sich den tatverdächtigen Mädchen an

Wenngleich die tatverdächtigen Mädchen im Fall Luise nicht strafmündig sind und daher strafrechtlich nicht belangt werden können, so sind Konsequenzen nicht ausgeschlossen. Das Jugendamt hat nun die Zuständigkeit, wie die Ermittler bei einer Pressekonferenz am Dienstag sagten.

Das Jugendamt kann nun verschiedene Maßnahmen, etwa Hilfsangebote für die Familie, eine engmaschige sozialpädagogische Begleitung der Familie, Unterbringung in einer Pflegefamilie, Jugendeinrichtung oder Psychiatrie anordnen, wie Julia Biastoch, Juristin am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Göttingen, dem „NDR“ sagte. Stimmen die Eltern nicht zu, entscheidet ein Familiengericht. Die Familien der mutmaßlichen Täterinnen benötigen genau wie die beiden Mädchen und die Familie des Opfers nun therapeutische Unterstützung, sagt Remschmidt.