Filmisches Denkmal für Christoph Schlingensief
Berlin – Er war innovativ, unberechenbar, provokativ. Nur wenige Theater-, Opern- und Filmregisseure haben den deutschsprachigen Kulturraum derart nachhaltig aufgewühlt wie Christoph Schlingensief.
Als Kind fing er mit Super-8-Filmen an, der Krebs stoppte den unbändig Schaffenden schon mit 49 Jahren. Bettina Böhler stellt mit ihrem Film „Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien” den Ausnahmekünstler vor. Es ist ein sehenswertes filmisches Denkmal geworden und am Mittwoch um 22.50 Uhr im Ersten zu sehen.
„Ich mache ja Regie”, sagt der noch ziemlich junge Schlingensief, nachdem er seine ersten, bereits sehr experimentellen Szenen abgedreht hat. „Ich habe meinen Vater gefragt, ob ich die Kamera mal haben kann. So habe ich '68, als die anderen demonstriert haben, den ersten Widerstandsfilm gedreht”, erinnert er sich später.
Auch in Böhlers Film scheint Schlingensief die Regie nicht abgeben zu wollen. Aus dem Material zahlreicher Interviews setzen sich seine Einschätzungen über sein Leben zusammen. „Ich habe immer aus einem positiven Dilettantismus die Filme produziert.”
Aus einer versehentlichen Doppelbelichtung des frühen Filmmaterials erwächst eine Erkenntnis. „Die Perspektive ist das Hauptmerkmal: Was passiert, wenn sich Dinge übereinander legen, die nichts miteinander zu tun haben?”
Schlingensief will so weitermachen. Um nach erster Ablehnung auf die Münchner Filmhochschule zu kommen, nutzt der Sohn eines Apothekers in Oberhausen die Kontakte zu einem Arzt in Oberhausen, dem Vater von Wim Wenders. Für das per Heimatklüngel vereinbarte Treffen fährt Schlingensief eigens nach Venedig - einen Hochschulplatz bringt es ihm nicht.
Schlingensief dreht Underground-Werke wie „Menu total” (1985/86) oder die Wiedervereinigungs-Satire „Das deutsche Kettensägenmassaker” (1990). Nicht alles erschließt sich beim Betrachten. Das Enfant terrible selbst findet „meine Arbeiten auch immer etwas verwirrend”.
Seine Kunstaktionen sind umstritten. Während der documenta in Kassel sorgt Schlingensief 1997 für einen Eklat nebst Polizeieinsatz mit dem plakatierten Aufruf „Tötet Helmut Kohl”. Ein Jahr später fordert er alle Arbeitslosen in Deutschland auf, mit ihm im Wolfgangsee schwimmen zu gehen, um das Gewässer am österreichischen Feriendomizil Kohls zum Überlaufen zu bringen. Zum Happening kommen rund 100 Anhängern seiner Partei „Chance 2000”. Der See bleibt still.
In Wien stellt Schlingensief 2000 Container vor die Staatsoper, wo das Publikum täglich einen Ausländer zum Abschieben auswählen darf. In Anlehnung an ein TV-Ratespiel lässt er 2002 in der Berliner Volksbühne Aufgaben stellen: „Ordnen Sie folgende Konzentrationslager von Nord nach Süd”. Frank Castorfs Haus verschaffte ihm in den 1990er Jahren den Durchbruch als Theaterregisseur mit Inszenierungen wie „100 Jahre CDU” oder „Rocky Dutschke, 68”.
Sein subversiver „Parsifal” in Bayreuth wird gefeiert. Nahe von Ouagadougou in Burkina Faso beginnt er ein Operndorf zu bauen. Für ihn selbst „ein Projekt, wo Kunst und Leben zusammengehen”.
Böhlers Film führt auch wieder nach Venedig. Dort setzt Schlingensief am Rande der Kunstbiennale 2003 traumatisierte Pfahlsitzer auf scheinbar sichere Baumstämme. Schon schwer krank soll er acht Jahre später selbst den Deutschen Pavillon gestalten. Er stirbt noch vorher. Venedig wird keine Ausstellung von ihm, sondern über ihn. Der Goldene Löwe dafür wird als posthume Ehrung gesehen. Seine Krebserkrankung arbeitet Schlingensief schon zuvor in einem ergreifenden Tagebuch auf: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!”
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