Die weltweiten Gletscher schmelzen in beispiellosem Tempo. Das verändert nicht nur die Ökosysteme in den Bergregionen, es hat auch verheerende Folgen für den Menschen.
GletscherWie das Sterben des ewigen Eises unser Leben bedroht

Bayern, Grainau: Schnee liegt auf dem Gletscherrest vom Höllentalferner. Der Höllentalferner ist ein Gletscher im Westen des Wettersteingebirges. Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2025 zum Internationalen Jahr der Erhaltung der Gletscher erklärt.
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Es ist eine Traurigkeit, die Jürgen Merz überkommt, wenn er mit seiner Kamera unterwegs ist. Wenn er etwa vor dem Gurgler Ferner, dem drittgrößten Gletscher des österreichischen Bundeslands Tirol, steht und sieht, wie viel Eis schon geschmolzen ist. „Zu wissen, dass diese schöne Landschaft verschwindet, ist einfach schlimm“, sagt der Landschaftsfotograf. Nicht nur in den Alpen dokumentiert er das Sterben der Gletscher, auch in Norwegen und Island war er schon.
Merz fotografiert die Gletscher aus einem bestimmten Blickwinkel. Er sucht sich vorab Archivbilder aus und reist dann zu genau den Orten, von denen aus vor Jahrzehnten schon einmal ein Fotograf die Gletscher im Bild festgehalten hat. „Wenn man im Sommer auf den Gletschern unterwegs ist, läuft da das Schmelzwasser wirklich in Strömen die Gletscher hinunter“, sagt er. Und jedes Mal muss er am Ende feststellen, dass die Archivbilder nicht mehr der Realität entsprechen. Die Gletscher von damals sind verschwunden.
Erster Welttag der Gletscher
Auf das Sterben der Gletscher wollen auch die Vereinten Nationen (UN) aufmerksam machen. Erstmals haben sie in diesem Jahr für Freitag, den 21. März, den Welttag der Gletscher ausgerufen. Er soll die Bedeutung der Gletscher hervorheben, ebenso wie deren Veränderungen. Denn: Dass das ewige Eis in den Bergen schmilzt, hat verheerende Auswirkungen auf das Leben der Menschen.
Weltweit gibt es mehr als 275.000 Gletscher, die eine Fläche von rund 700.000 Quadratkilometern bedecken. Das entspricht der doppelten Fläche Deutschlands. Gletscher sind nichts anderes als eine große Ansammlung von vor allem Eis und Schnee.

Blick auf den abgebrochenen Gletscher am Berg Marmolata vom Passo Fedaia in den Dolomiten in Südtirol. Das Bild stammt aus dem Jahr 2022.
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„Ein Gletscher entsteht überall dort, wo übers Jahr mehr Schnee fällt, als im Sommer wegschmilzt“, erklärt Michael Zemp, Glaziologe von der Universität Zürich in der Schweiz. Der Schnee sammelt sich im oberen Teil des Gletschers, dem sogenannten Nährgebiet, verdichtet sich und wird zu Eis. Im Sommer schmilzt ein Teil des Eises und fließt als Schmelzwasser ins Tal.
Gletscher sind gigantische Wassertürme: Sie speichern etwa 170.000 Kubikkilometer Eis, was rund 70 Prozent des weltweiten Süßwassers entspricht. Damit sind Gletscher eine wichtige Wasserquelle – für Tiere und Pflanzen, aber auch für den Menschen. Doch diese Quelle versiegt immer mehr.
Gletscher in der Finanzkrise
„Man könnte eigentlich sagen: Ein Gletscher funktioniert wie ein Schweizer Bankkonto“, sagt Zemp. „Er hat Einnahmen – das ist der Winterschnee –, und er hat Ausgaben. Das ist die Eisschmelze im Sommer. Und gerade stecken die Gletscher inmitten einer Finanzkrise. Denn sie haben viel mehr Ausgaben als Einnahmen.“
Wie stark das Bankkonto schon überzogen ist, hat Zemp mit anderen internationalen Expertinnen und Experten genauer analysiert. Für ihre Studie, die Mitte Februar im Fachmagazin „Nature“ erschienen ist, untersuchten sie Daten von Gletschern aus 19 Weltregionen aus den Jahren 2000 bis 2023. Ihr Ergebnis: Weltweit haben die Gletscher 273 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr verloren. Das entspricht dem Wasserverbrauch der Weltbevölkerung in 30 Jahren, wenn man drei Liter pro Person und Tag annimmt.

Eine Gruppe Touristen wandert in der Nähe des grönländischen Ortes Ilulissat vor der Kulisse riesiger Eisberge entlang. Die Eisberge sind vom nahegelegenen Gletscher Sermeq Kujalleq gekalbt und treiben im Anschluss langsam hinaus in Richtung Diskobucht und weiter ins offene Meer.
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„Die aktuellen Daten zeigen eindeutig, dass die Gletscherschmelze zugelegt hat, und zwar eben nicht nur in einzelnen Regionen, sondern inzwischen global“, sagt Zemp. So gingen im Zeitraum von 2012 bis 2023 rund 36 Prozent mehr Eis verloren als in den Jahren 2000 bis 2011. Damit schmelzen die Gletscher in diesem Jahrhundert schneller, als die jüngsten Einschätzungen des Weltklimarats prognostiziert haben.
Fehlender Schnee, zu warme Sommer
„Das zeigt eindeutig, dass wir das Klimaproblem nicht im Griff haben“, macht Zemp deutlich. Denn dass die Gletscher so schnell schmelzen, hat aus Sicht des Experten einen Grund: die menschengemachte Klimakrise. Gletscher seien die „besten natürlichen Klimaindikatoren“. Zu schnell sei der Klimawandel bereits vorangeschritten, sodass bis 2050 etwa 10 bis 20 Prozent des globalen Gletschervolumens verschwunden seien – unabhängig davon, welches Klimaszenario man sich anschaut.
Die UN warnen in ihrem Weltwasserbericht ebenfalls vor dem Einfluss des Klimawandels. Er sorge dafür, dass die Akkumulationsperioden – also die Zeiten, in denen der Gletscher durch neuen Schnee wieder wachsen kann – kürzer werden. Gleichzeitig führt er zu weniger Schnee, höheren Temperaturen in den Sommermonaten und mehr Niederschlägen.
Es fehle an Kälteeinbrüchen im Sommer, sagt auch Gletscherfotograf Merz. Die Gletscher würden ganz klar zeigen, dass sich der Klimawandel beschleunigt. „Die Leute, die das infrage stellen, sollten mal im Sommer an einen Gletscher gehen und sich anschauen, wie es früher war und wie es jetzt ist. Ich glaube, es gibt nicht viel zu diskutieren, dass da im Moment ein Prozess im Gange ist, der noch ganz viel beeinflussen wird in der Zukunft.“
Wie Forschende den Gletscherschwund messen
Wie sich die Gletscher entwickeln, versuchen Forschende, genau zu überwachen. Dafür nutzen sie zwei verschiedene Methoden. Einerseits führen sie Feldmessungen durch – zum Beispiel, indem sie Metallstangen in das Eis der Gletscherzunge, also dem unteren Teil des Gletschers, bohren. Ein Jahr später schauen sie dann, wie viel Metall der Stangen freigelegt ist. So können sie nachvollziehen, wie viel Eis geschmolzen ist. Andererseits nutzen sie Daten von Satelliten, die Oberflächenveränderungen aus dem All erfassen können.
Zusammenträgt diese Daten der World Glacier Monitoring Service (WGMS), geleitet von Glaziologe Zemp. Die Zahlen des WGMS sprechen Bände: Weltweit haben die Gletscher im vergangenen Jahr schätzungsweise 450 Milliarden Tonnen an Masse verloren – das viertschlechteste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Es passt zum allgemeinen Trend: Seit Ende der 1980er Jahre verlieren die Gletscher kontinuierlich an Masse. Nur fünf Jahre ohne Eisverlust gab es in den vergangenen Jahrzehnten. Das führt zu einem Masseverlust von knapp 9200 Gigatonnen Eis seit 1976 – was einem 25 Meter dicken Eisblock von der Größe Deutschlands entspricht.
Alpen besonders betroffen
Eine Region sticht aus den Daten besonders heraus: die Alpen. „Sie gehören zu den Regionen, wo die Gletscher am stärksten leiden und wo nicht mehr viel Eis vorhanden ist“, sagt Zemp. „Hier sind die Schmelzraten pro Jahr größer als ein Prozent des Resteises. Das heißt, unter aktuellen Schmelzraten überleben diese Gletscher dieses Jahrhundert nicht.“
Der Österreichische Alpenverein hat jüngst seinen neuen Gletscherbericht vorgestellt – ebenfalls mit alarmierenden Ergebnissen. In der Saison 2023/24 zogen sich die Gletscher in den österreichischen Alpen um durchschnittlich 24,1 Meter zurück. Das ist der dritthöchste Rückzugswert in der 134-jährigen Geschichte des Gletschermessdienstes.
Auf der deutschen Seite der Alpen ist man nicht weniger alarmiert. „Fakt ist, dass sich alle Gletscher in den Ostalpen zurückziehen“, sagt Tobias Hipp vom Deutschen Alpenverein. „Es gibt in den Alpen keine Gletscher mehr, die vorstoßen.“ Auch er kennt die Daten der „Nature“-Studie: Demnach gibt es in den Ostalpen seit dem Jahr 2000 einen Massenverlust von etwa zwei Milliarden Tonnen Eis pro Jahr – das entspricht einem Massenverlust von 40 Prozent in den vergangenen 20 Jahren. Teile der Gletscher seien bereits unumkehrbar geschmolzen. „Die Temperaturen in den Alpen sind mittlerweile so hoch, dass wir in einem Klima sind, in dem sich Gletscher definitiv nicht mehr bilden können. Und auch fürs Überleben ist es schon zu warm“, sagt Hipp.
Gletscherschmelze lässt den Meeresspiegel steigen
Natürlich könnte man jetzt die Frage stellen: Was interessiert es, dass auf Hunderten oder Tausenden Metern Höhe Eis schmilzt? Glaziologe Zemp hat darauf eine simple Antwort: „Was auf den Gletschern passiert, bleibt nicht auf den Gletschern.“
Dass die Gletscher schmelzen, bedeutet, dass mehr Wasser in die Flüsse und Bäche strömt und im Meer endet. Die Folge: Der Meeresspiegel steigt. Wie Zemp und seine Kolleginnen und Kollegen in ihrer Studie berechneten, sorgten die 273 Milliarden Tonnen Eisverlust zwischen 2000 und 2023 dafür, dass der globale Meeresspiegel um 18 Millimeter stieg. Dabei ist noch nicht das Schmelzen der kontinentalen Eisschilde Grönlands und der Antarktis berücksichtigt. Je mehr der Meeresspiegel steigt, desto größer ist die Gefahr, dass Inseln und Küstenstädte überschwemmt werden.
Gleichzeitig geht mit der Gletscherschmelze wichtiges Süßwasser, also Trinkwasser, verloren. Nach Angaben der UN sind weltwet mehr als zwei Milliarden Menschen für ihre Trinkwasserversorgung, sanitäre Einrichtungen und ihren Lebensunterhalt auf das Wasser aus den Bergen angewiesen. Schmelzen die Gletscher, steht weniger Wasser für alle zur Verfügung. Das könnte unter anderem schwere Folgen für die Landwirtschaft haben, die auf Wasser angewiesen ist, um ihre Ackerpflanzen zu bewässern. Der Kampf um die Wasserressourcen könnte insgesamt zunehmen, insbesondere in saisonal trockenen Regionen.
Herausforderung für den Tourismus
Die Gletscherschmelze hat ebenso Einfluss auf die Tier- und Pflanzenwelt. Wärmeempfindliche Pflanzen und Tierarten müssen höher wandern. Kaltwasserbewohner in Flüssen sind bedroht, wenn ihr Habitat nicht mehr von Gletscherwasser gekühlt wird. Unter dem schmelzenden Eis und Permafrost können zudem neue, noch unbekannte Mikroorganismen wie Bakterien zum Vorschein kommen. Ihr Einfluss auf das Ökosystem ist noch unklar.
Auch im Tourismus und Bergsport machen sich die schmelzenden Gletscher bemerkbar. „Es nehmen die allgemeinen alpinen Gefahren zu“, sagt Hipp. Der Deutsche Alpenverein betreibt rund 250 Hütten in den Ostalpen, wo bereits heute die Wasserversorgung ein großes Problem darstellt und teilweise Fundamente instabil werden. An den Nordwänden, wo man sonst in den Sommermonaten Eistouren machen konnte, liege nun loser Schutt und es bestehe die Gefahr von Steinschlägen. Schutt statt Eis, tauender Permafrost und zunehmende Hitzewellen sorgen dafür, dass heute schon manche Hochtouren „fast gar nicht mehr möglich oder zu gefährlich sind“, so Hipp weiter. „Wir sehen ganz klar, dass auf uns, aber auch andere Alpenvereine große Herausforderungen zukommen – oder bereits da sind.“
Wie können wir die Gletscher retten?
Die Gletscher zu retten, ist eine schwierige, wenn nicht sogar unlösbare Aufgabe. Einige Alpengemeinden versuchen, die Gletscher durch künstlichen Schnee aus Schneekanonen aufrechtzuerhalten. Andere nutzen weißes Spezialvlies, um das Eis abzudecken. In der Schweiz gebe es für diese Art des Geoengineerings einen Begriff, sagt Zemp: „Pflästerlepolitik“. Etwas, das quasi die Wunde stillt, aber das eigentliche Problem nicht löst. Und zudem nicht auf ganze Gletscher oder Gebirgsregionen skalierbar ist.
Aus seiner Sicht gibt es nur einen Weg, um zumindest einen Teil der Gletscher vor dem kompletten Abschmelzen zu bewahren: Die Klimakrise bekämpfen. Also Treibhausgasemissionen reduzieren, um zu verhindern, dass sich die Erde weiter erwärmt, und mehr in den Klimaschutz investieren. Wenn die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden würde, könnte knapp die Hälfte der Gletscher überleben, prognostizierte 2023 eine Studie. Jedes Zehntel Grad helfe, so die Autorinnen und Autoren. „Die gute Botschaft ist: Das Ganze ist menschengemacht, deshalb können wir es auch beheben, wenn wir denn nur wollen“, sagt Zemp. „Wir wissen, was wir ändern müssen. Wir haben alles, um es zu tun. Wir müssen nur endlich loslegen.“