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Das Rätsel um Inga1.850 Hinweise - doch keine Spur

Lesezeit 5 Minuten
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Vor einem Jahr verschwand die kleine Inga in einem Wald bei Stendal. Die Fünfjährige bleibt bis zum heutigen Tag verschwunden. Was ist der Fünfjährigen passiert? Die Polizei geht davon aus, dass sie entführt wurde.

Wilhelmshof – Wie Säulen stehen die Bäume am Straßenrand. Kiefern und Birken, vereinzelt auch Buchen. Durch das Spalier, das die Stämme bilden, führt der rumpelige Asphaltweg in leichten Kurven immer tiefer in den Wald.

Es ist ein lichter Wald, kein dunkles Dickicht. Ein Fuchs springt über den Weg. Hastig verschwindet er zwischen Bäumen.

Drei Kilometer nachdem die Straße in Uchtspringe nahe Stendal (Altmark) begonnen hat, wird der Wald plötzlich aufgebrochen.

Die Straße durchquert eine Koppel, auf der Pferde grasen. Vorbei an einem Heuwagen geht es in den Ort, der vor einem Jahr so urplötzlich in die Öffentlichkeit katapultiert wurde: Wilhelmshof.

Es ist jener Ort, an dem am 2. Mai 2015 die kleine Inga verschwand. Die Fünfjährige aus Schönebeck war mit ihrer Familie in Wilhelmshof. Am Abend wollten sie mit Freunden ein Lagerfeuer machen.

Die Kinder suchten im Wald nach Holz. Doch Inga kam nicht zurück. Um 20.13 Uhr ging bei der Polizei der Notruf ein: Inga wird vermisst.

Bis heute hat sich daran nichts geändert. Das fünfjährige Mädchen mit der großen Zahnlücke und den blonden Zöpfen ist einfach weg. Spurlos verschwunden. Bis heute.

1.850 Hinweise, keine Spur

An der Einfahrt zum Diakoniewerk wartet Joachim Arnold. Wilhelmshof ist eine Wiedereingliederungseinrichtung der evangelischen Kirche.1909 für die Betreuung von Suchtkranken gegründet.

Heute leben hier auch geistigbehinderte Menschen. Arnold ist der Vorstand des Diakoniewerks.

Ein kräftiger Mann mit dunklen Haaren, dessen Händedruck aber weich ist. Arnold spricht sehr bedächtig und leise. Er wirkt noch immer mitgenommen von dem, was passiert ist.

Schon im Vorfeld hat er gesagt, dass er kein Interview gibt. Man habe Verständnis für das öffentliche Interesse. Doch unter den Mitarbeitern einigte man sich, zu schweigen, damit nicht alles wieder aufgewühlt wird.

Was könne er auch sagen? Außer, dass alle bestürzt sind, unendlich traurig und jeder hier hofft, dass Inga wieder auftaucht. Dass das Schlimme doch noch irgendwie gut endet.

Arnold führt über das Gelände. Das Diakoniewerk betreibt eine kleinen Landwirtschaft mit Forstbetrieb, Tischlerei und Töpferei. Ein paar Gänse schnattern in die Ruhe hinein.

Auf einer Wiese liegen zwei Alpakas und kauen gemächlich Gras. Die 20 Häuser von Wilhelmshof sind in die Einsamkeit gebaut, weil diese Abgeschiedenheit für sie auch Schutz bedeutet.

Schutz für die 84 Menschen, die hier betreut werden, weil sie sich in der Welt jenseits des Waldes nicht zurechtfinden.

Die Bewohner und ihre Betreuer essen jeden Tag gemeinsam. Es ist ein familiäres Miteinander. 75 Mitarbeiter hat das Diakoniewerk. Einige sind schon seit DDR-Zeiten hier angestellt, 30 wohnen in Wilhelmshof.

Bei einer der Familien war auch Inga mit ihren Eltern und den drei Geschwistern zu Gast. Nach dem Verschwinden der Fünfjährigen wurden auch die Einwohner von Wilhelmshof verdächtigt.

Bis heute ergaben die Ermittlungen: nichts. Am Spielplatz vorbei geht es zum nordöstlichen Ende des Areals. Arnold zeigt in Richtung einer Wiese.

Dahinter liegt, von grünen Bänken umrahmt, die Feuerstelle. Dort sollte das Holz, das die Kinder gesucht haben, verbrannt werden. Die Wiese davor ist abgesperrt.

Der Rasen wird gerade neu angepflanzt. Dahinter beginnt der Wald, in den Inga gelaufen ist. Noch am Abend ihres Verschwindens startet die Polizei eine der größten Suchaktionen, die es in Sachsen-Anhalt jemals gegeben hat.

Unter anderem Spürhunde und Hubschrauber mit Wärmebildkameras kommen zum Einsatz. Rund 1.500 Polizisten und Helfer durchsuchten ein Gebiet, das so groß ist wie 5.000 Fußballfelder.

In engen Ketten durchkämmen sie den Forst. Teiche werden leer gepumpt und Misthaufen durchwühlt. Die Suche ist so intensiv, dass verrostete Haarspangen im Unterholz gefunden werden.

Nur einen Hinweis auf die vermisste Inga finden die Einsatzkräfte nicht. Die Polizei gründet eine Sonderkommission. Sie nennt sich Soko „Wald“.

Anzeichen für ein Verbrechen

Die Fahndung nach Inga ist eine der größten Suchaktionen in der Geschichte Sachsen-Anhalts. Polizisten durchkämmen nicht nur das Gelände „Wilhelmshof", sondern auch den umgebenden Wald - finden aber keine Spuren.

Von drei Grundszenarien gehen die Ermittler aus. Erstens: Inga ist weggelaufen. Zweitens: Sie hatte einen Unfall. Drittens: Die Fünfjährige wurde entführt.

Die erste Variante ist von Beginn an unrealistisch. Nummer zwei wird mit zunehmender Dauer unwahrscheinlicher. Als die Suche vor Ort nach fünf Tagen beendet wird, sagt die Polizei: „Wir können ausschließen, dass sich Inga in dem Wald befindet.“ Hätte sie ein Unfall gehabt, wäre sie gefunden worden. Szenario drei und damit eine Straftat ist am wahrscheinlichsten.

In den Tagen Anfang Mai ist auch Mike von Hoff in Wilhelmshof. Er ist Sprecher der Polizeidirektion Nord und betreut den Fall Inga. Und er muss immer wieder diesen Satz sagen: „Es gibt keine Spur.“ Insgesamt seien 1.850 Hinweise eingegangen, 98 Prozent davon sind abgearbeitet.

Sogar Träumen und den Aussagen von Hellsehern ist man nachgegangen. Zeitweise hat die Soko „Wald“ 40 Mitarbeiter. Mittlerweile sind es noch sieben.

„Die Arbeit besteht jetzt darin, das gesammelte Material zu durchsuchen“, sagt von Hoff. Dabei werde nach Verknüpfungen und Widersprüchen geschaut.

Ermittlungsarbeit in einer riesigen Menge von Daten. Die Aktenordner füllen ganze Regalwände. Hinzu kommen digitale Material-Massen, etwa Videoaufnahmen von Tankstellen oder Blitzer-Bilder.

Alles wird wieder und wieder angeschaut. Wann diese Arbeit vorbei ist? „Das bestimmen vor allem die Kollegen“, sagt von Hoff. Wenn sie irgendwann alle ihre Möglichkeiten ausgeschöpft haben, löst sich die Soko „Wald“ auf.

„Aber auch dann wird die Suche nicht eingestellt“, sagt der Polizeisprecher. Die Ermittlungen würden immer nebenbei weiterlaufen - solange, bis Inga gefunden ist.

Beten und Hoffen

Der Fall wird auch in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY - ungelöst“ behandelt. Es gibt viele Hinweise, aber keine heiße Spur.

Mike von Hoff wirkt erschöpft. „Stets neue Zahlen zu nennen, hilft uns nicht weiter“, sagt er. Es komme darauf an, dass irgendjemand vielleicht doch noch den entscheidenden Hinweis hat. Sich an ein Detail erinnert, dass den Ermittlern weiter hilft. Das entscheidende Puzzlestück liefert.

Für alle hat sich der Fall Inga zu einem anhaltenden Warten auf dieses Etwas entwickelt, das Klarheit verschafft. Die Ungewissheit hat sich verstetigt, ist zum Dauergefühl geworden.

In Wilhelmshof, erzählt Joachim Arnold zum Abschied, wollen alle Bewohner und Mitarbeiter am Montag, genau ein Jahr nach dem Verschwinden von Inga, gemeinsam für das Mädchen beten.

Es ist wohl, was jetzt noch bleibt. Beten und hoffen, dass die Suche irgendwann ein Ende hat. (mz)