Karnevalssitzung in GangeltVor einem Jahr begann die Corona-Pandemie in NRW

Auf der Kappensitzung in Gangelt-Langbroich begann die Pandemie in NRW.
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Heinsberg – Es ist Aschermittwoch, der 26. Februar 2020, als das Coronavirus in NRW entdeckt wird – ausgebrochen zwölf Tage zuvor auf einer Karnevalssitzung in Gangelt-Langbroich im Kreis Heinsberg. Die Bedingungen für das Virus waren ideal: 300 Menschen, die bei der „Kappensitzung“ der „Langbröker Dicke Flaa“ im Bürgerhaus unbeschwert feiern. Dicht an dicht. Corona? Kein Thema. Wuhan? Weit weg.
Die alarmierende Nachricht damals lautet: Zwei Erkrankte mit Covid-19 im Krankenhaus Erkelenz. „Wir haben sofort gehandelt“, sagt Guido Willems über die Reaktion des Krisenstabs im Kreis Heinsberg. Ab Aschermittwoch sind Schulen und Kindergärten geschlossen. Die Nachricht verbreitet sich rapide. Plötzlich kennt die ganze Republik den Ort an der niederländischen Grenze.
Die Kappensitzung vom 15. Februar wird für immer die Keimzelle des Ausbruchs der Pandemie in NRW bleiben. Die beiden Coronakranken hatten daran teilgenommen. Singen, Schunkeln und fehlender Luftaustausch begünstigen Ansteckungen. Zwölf Tage später gibt es bereits 20 bestätigte Covid-19-Fälle. Etwa 1000 Menschen kommen sicherheitshalber in Quarantäne. Noch ist von Panik nichts zu spüren. In der Schlange vor der Grenzland-Apotheke warten die Menschen, um Medikamente gegen die übliche Nach-Karnevals-Erkältung zu kaufen. Das mit dem Virus werde schon nicht so schlimm, sagt ein älterer Mann. „Nach Karneval sind die großen Veranstaltungen doch vorbei.“
Im März hält die Wissenschaft Einzug, der Bonner Virologe Hendrik Streeck untersucht die Verbreitung des Virus in Gangelt und ist voller Optimismus. Man stoße auf großes Entgegenkommen. „Uns wird Kuchen gebacken, man bringt uns Donuts. Ein sehr netter Umgang, eine unheimlich nette Bevölkerung und ich freu’ mich auf den Karneval im nächsten Jahr – hoffe ich.“ Streecks Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Und er ahnt auch nicht, dass er ein Jahr später bundesweit bekannt sein wird. Wie der Ort Gangelt und Stephan Pusch (52), der Landrat des Kreises Heinsberg.
Damals ist Guido Willems (39) noch Büroleiter des Landrats. Im September wird der CDU-Mann zum Bürgermeister seines Heimatorts Gangelt gewählt. Das Coronavirus bestimmt wie überall den Alltag der Kleinstadt mit 13 000 Einwohnern. Aktuell sei man auf einem guten Weg, sagt Willems. „Wenn man die Studie von Professor Streeck hochrechnet, hatten wir im vergangenen Jahr bis zur Studie 1800 Infizierte in Gangelt“, sagt Willems. Offiziell gibt es 350 Erkrankte.
Damals wartete man auf Fieber und Husten
Auch Willems leidet nach Karneval unter Geschmacksverlust und Kopfschmerzen. Heute weiß man, es sind typische Symptome. „Mit den Erkenntnissen, die man damals hatte, wartete man auf Fieber und Husten.“ Die Folge: Auch er arbeitet munter weiter.
Sein Boss, Landrat Pusch, rückt mit jedem Tag mehr in den Mittelpunkt des Geschehens. Er warnt vor Stigmatisierung, kritisiert die Pläne, den gesamten Landkreis mit Hilfe der Bundeswehr abriegeln zu lassen und schaltet die chinesische Botschaft ein, um Schutzkleidung und Masken zu organisieren.
Der Karnevalsverein schweigt
In seinen Facebook-Botschaften findet Pusch deutliche Worte. In den großen Talkshows ist der CDU-Politiker längst Stammgast und sagt, was er denkt. „Papa Pusch“ stellt sich hinter seine Mitarbeiter, wenn die am Telefon beschimpft werden, fordert ein Ende des Distanzunterrichts. Bei der Kommunalwahl im September fährt er ein Rekordergebnis von knapp 80 Prozent ein. „Ich bin ja unfreiwillig in kurzer Zeit zum Corona-Experten geworden“, sagt er heute. Und dass er die Hoffnung habe, sich möglichst bald wieder den normalen Aufgaben eines Landrats widmen zu dürfen.
Der Karnevalsverein „Langbröker Dicke Flaa“, bei dem alles seinen Anfang nahm, schweigt. Für Interviews stehe der Verein nicht zur Verfügung, sagt Sprecher Stefan Keulen. Immerhin: Das Haus der Geschichte in Bonn hat sich einen Bierkranz und Getränkebons von der Veranstaltung gesichert. Sie sollen symbolisch für den Beginn der Pandemie in Deutschland stehen. (mit dpa)