Kommentar zu Krankenpfleger Niels H.Niemand hatte den Mut, einen Verdacht zu äußern
Oldenburg – Es ist ein monströses Verbrechen. 90 Todesopfer – mindestens. Wären sie in Deutschland bei einem Attentat ums Leben gekommen, die Tat würde uns erschüttern wie kaum eine zuvor. Doch die Menschen starben leise, einer nach dem anderen. Lange blieben die Morde unbemerkt. Die Opfer waren schwer erkrankt und wurden getötet an einem Ort, an dem eben oft gestorben wird: auf der Intensivstation. 90 Morde meinen die Ermittler dem Krankenpfleger Niels H. nachweisen zu können, vermutlich waren es noch mehr.
Er spritzte den Patienten eine Überdosis Medikamente, um sie wiederbeleben zu können. Er wollte als heldenhafter Lebensretter dastehen und wurde dafür zum Massenmörder. Es ist ein bizarres, kaum nachvollziehbares Motiv. Alles spricht dafür, dass es sich um einen schrecklichen, alle Vorstellungen übersteigenden Einzelfall handelt. Und doch reicht die Dimension der Tat weiter. Singuläres Versagen lässt Fehler im System zutage treten.
Eine zweite Phase der Trauer
Deutsche Krankenhäuser haben zu recht einen exzellenten Ruf. Die Menschen sind dort gut und sicher aufgehoben. Ärzte und Pfleger ringen täglich, stündlich um das Leben von Schwerstkranken. Die Angehörigen der Opfer von Niels H. kann das nicht trösten. Sie müssen – nach dem lange zurückliegenden Tod ihres Vaters, ihrer Mutter, ihrer Tochter oder ihres Sohnes – einen erneuten Schock hinnehmen, eine zweite Phase der Trauer erleben.
Manche, deren Verwandte während der Dienstzeit von Niels H. starben und bereits eingeäschert wurden, müssen mit der Ungewissheit leben, dass sie Hinterbliebene eines Mordopfers sein könnten. Ihnen allen müsste man zumindest zusichern, alles dafür zu tun, dass sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt.
Kritik der Experten
Völlig ausschließen kann das niemand. Experten beklagen seit langem, dass in Deutschland nicht oft genug obduziert wird. Hätte man im Fall Niels H. Obduktionen schon nach den ersten Auffälligkeiten veranlasst, hätte seine Mordserie nicht dieses Ausmaß annehmen können. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin spricht von einer „Misere des Leichenschauwesens“ in Deutschland.
Schon im Medizinstudium müsse das Thema mehr Raum bekommen, für alle Ärzte solle eine entsprechende Fortbildung verpflichtend sein. Und der Fachverband fordert eben auch, viel häufiger zu obduzieren. Das würde auch zur Aufdeckung anderer Verbrechen führen. Die Rechtsmediziner sind überzeugt, dass viele Tötungsdelikte bleiben, weil Ärzte nicht genau oder professionell genug hinsehen. Eine Analyse bezifferte die Zahl der Taten, die dadurch verborgen und ungestraft bleiben, bundesweit auf 1500 bis 2000 im Jahr.
Niels H. sei auffällig gewesen
Obduktionen wären also ein Weg gewesen, um Niels H. auf die Spur zu kommen. Doch was war eigentlich mit seinen Vorgesetzten, seinen Kollegen? Während der Schicht des Krankenpflegers starben auffallend viele Menschen. An beiden Kliniken, an denen er mordete, soll es schon früh Gerede gegeben haben. Aber dabei blieb es. Niemand hatte den Mut, einen Verdacht gegen den Kollegen zu äußern. Ein anonymes Meldesystem hätte helfen können. In der Vergangenheit waren die Mitarbeiter von Krankenhäusern enorm darauf bedacht, alles zu unterlassen, was den Ruf ihrer Klinik schädigen könnte.
Offenbar hat auch ein Schwerverbrecher wie Niels H. von diesem vermeintlichen Ehrenkodex profitiert. Doch wer schlimme Beobachtungen macht oder einen Verdacht hat, darf nicht als Störenfried oder Denunziant dastehen. Nicht zuletzt deshalb ist es richtig, dass sich im Fall Niels H. demnächst zwei Oberärzte und ein Stationsleiter vor Gericht verantworten müssen. Auch das Wegsehen muss Konsequenzen haben.
Ja, der Fall Niels H. ist in seiner Monströsität singulär. Aber ohne verbesserte Vorsorge wächst die Gefahr, dass er es nicht bleibt.