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Landkreis HeinsbergGanz Deutschland blickt in der Corona-Krise auf ein Dorf

Lesezeit 5 Minuten

Beim Test: Landrat Stephan Pusch mit Hygienikerin Ricarda Schmithausen und dem Virologen Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn

  1. Die Menschen im Landkreis Heinsberg waren die ersten, die vom Coronavirus mit voller Wucht getroffen wurden.
  2. Doch Stephan Pusch, Landrat des Kreises, hat mittlerweile wieder Hoffnung.
  3. Der Hilferuf, den das Kreisgesundheitsamt kurz nach dem Ausbruch des Virus an die Uniklinik Bonn geschickt hat, könnte sich nun als Glücksfall erweisen.

Heinsberg – „Wenn Sie mich fragen – nobelpreisverdächtig.“ Stephan Pusch (CDU), Landrat des Kreises Heinsberg, steht in den Gängen der Jakob-Muth-Schule im Ortsteil Gangelt und spricht mit der Entschlossenheit und dem Optimismus in die Fernsehkamera, die ihm in der Corona-Krise zu bundesweiter Bekanntheit verholfen haben. Seit Montag läuft in der Schule eine repräsentative Studie, an der 1500 Menschen aus 500 Familien teilnehmen und die Aufschluss geben soll, wie sich das Virus verbreitet.

„Wir wollen verstehen, wie hoch die Dunkelziffer ist, wie viele Menschen infiziert waren oder sind, die gar nichts davon wissen“, sagt Professor Hendrik Streeck, Virologe an der Bonner Uniklinik. Überdies wolle man erfahren, „was hier eigentlich passiert ist, wie die Infektionswege in der Gemeinde Gangelt waren“. Wenn man die Dunkelziffer in einer „definierten Population“ wie dem Kreis Heinsberg ermittelt habe, könne man erst beurteilen, wie gefährlich das Virus überhaupt ist, sagt Streeck.

Die Menschen im Landkreis Heinsberg waren die ersten, die vom Coronavirus mit voller Wucht getroffen wurden. Keimzelle war die Karnevalssitzung am 14. Februar, bei der das ganze Dorf noch ausgelassen gefeiert hatte. Gut sechs Wochen später zählt der Kreis 1417 Menschen, die sich mit dem Virus angesteckt haben, 39 Menschen sind bisher an Covid-19 gestorben, 693 schon wieder genesen. „Die Kurve wird flacher“, sagt Landrat Pusch. Das mache Hoffnung. „Aber noch sind wir nicht über den Berg.“

Hilferuf könnte sich als Glücksfall erweisen

Der Hilferuf, den das Kreisgesundheitsamt kurz nach dem Ausbruch des Virus an die Uniklinik Bonn geschickt hat, könnte sich nun als Glücksfall erweisen. „Wir wurden gefragt, ob wir für das Gesundheitsamt kurzfristig die Diagnostik übernehmen können“, sagt Professor Streeck. „Wir haben uns gesagt, eigentlich gehört hier Forschung in den Ort und wir müssen verstehen, wie es zu diesem Ausbruch gekommen ist und wie sich das Virus überträgt. Ist es auf Türklinken, auf Handys, auf Fernbedienungen?“

Die Virologen besuchen mehrere Wochen lang Menschen, die von Covid-19 betroffen sind, führen Interviews, fragen nach Vorerkrankungen und Medikamenten, nehmen Blutproben und Abstriche, auch in der Luft, von Türklinken, Toiletten, Handys, Fernbedienungen und sogar von Katzen.

Befund könnte für die viel diskutierte Exit-Strategie von großer Bedeutung sein

Die ersten vorläufigen Erkenntnisse, die sie im Labor gewinnen: Es gelingt nicht, auf den Abstrichen dieser Oberflächen ein lebendiges Virus nachzuweisen. Das sei selbst bei einem Haushalt mit hochinfektiösen Menschen nicht der Fall gewesen. Auf diesem Weg besteht offenbar keine Ansteckungsgefahr. Dieser Befund kann von großer Bedeutung für die von der Politik derzeit viel diskutierte Exit-Strategie sein. „Die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche nicht, muss die Politik treffen“, sagt Streeck. „In einer Zeit, in der viel Verunsicherung herrscht, ist es unsere Pflicht, Fakten zu schaffen, sehr schnell Fakten zu schaffen.“

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Daher plane man bereits in der kommenden Woche erste Ergebnisse zu liefern. „In zwei, drei Wochen“, sollen dann die nächsten folgen, „damit wir Empfehlungen und Ideen formulieren können, wie wir zum einen das Virus eindämmen, aber auf der anderen Seite bestimmte Einschränkungen lockern können“. Streeck glaubt derzeit nicht, dass man die getroffenen Maßnahmen so rigide weiterführen müsse. Ganz sicher könne er das aber noch nicht sagen. Dazu sei die Datenlage einfach noch zu dünn.

Vermutungen zum Virus müssen auf eine solide Basis gestellt werden

Genau das ist der Grund, warum die Wissenschaftler die repräsentative Studie mit Hochdruck vorantreiben. Sie müssen ihre Vermutungen auf eine solide Basis stellen. In der Jakob-Muth-Schule werden eine Woche lang Rachenabstriche gemacht, Blutproben genommen. In Fragebogen müssen die Probanden über Vorerkrankungen und ihr Reiseverhalten Auskunft geben. Sie werden auch nach ihren Essensgewohnheiten befragt. Die Stichprobe sei so gewählt, dass sie nicht nur für Gangelt repräsentativ ist, sondern Rückschlüsse auf NRW und ganz Deutschland zulasse.

„So eine Studie gibt es derzeit nirgendwo in der Welt“, sagt Streeck. Das sei Pionierarbeit. Die Gemeinde Gangelt und der Kreis Heinsberg böten die besten Voraussetzungen. „Die meisten Infektionen können auf einen Zeitpunkt zurückgeführt werden. Von dem geht es wie ein Schneeball aus, wo weitere Infektionen stattgefunden haben.“

In einem zweiten Teil der Studie wird das Institut für Hygiene der Uniklinik Bonn noch einmal Abstriche von Türklinken und Handys, aber auch Abwasserproben nehmen, um die Frage zu beantworten, wo sich das Virus befindet. „Wir haben auch ein Gerät, mit dem die Luft für ein paar Minuten angesaugt wird“, sagt Streeck. So wolle man die Ergebnisse der ersten Tests überprüfen, bei denen sich herausgestellt habe, dass das Virus auf Oberflächen nicht mehr infektiös ist. Dass die Ergebnisse der Feldstudie im Kreis Heinsberg für die Landesregierung und ganz Deutschland bei der Frage der Lockerung des Kontaktverbots von entscheidender Bedeutung sind, ist Hendrik Streeck durchaus bewusst.

Wissenschaftler Streeck: „Halte es für extrem wichtig, über eine Exit-Strategie nachzudenken“

Als Wissenschaftler werde er sich dazu nicht äußern, er sei kein Fachmann für Ethik oder Wirtschaft. Er sehe aber schon, was so eine Ausgangsbeschränkung für die Menschen bedeute. „Ich persönlich als Bürger halte es für extrem wichtig, über eine Exit-Strategie nachzudenken. Darum haben wir diese Studie initiiert“, sagt Streeck am Dienstag in der ZDF-Talkshow bei Markus Lanz. „Ich habe selber Freunde, die sich fragen, ob sie nach der Krise noch einen Job haben. Oder Freunde, die sich wundern, wie sie ihre Miete langfristig bezahlen können.“ Er empfinde die Einschränkungen „im Verhältnis zu anderen Epidemien, die wir gehabt haben, schon ganz schön drastisch“.

Den Virologen sei schon sehr früh aufgefallen, dass es die großen Ausbrüche des Coronavirus immer nach Ereignissen gegeben habe, bei denen Menschen für längere Zeit auf engem Raum zusammen waren. In einer Après-Ski-Bar in Ischgl, bei einem Fußballspiel in Bergamo, in einem Klub in Berlin.

Und eben in Gangelt im Landkreis Heinsberg. Bei der Karnevalssitzung. Damals habe man nicht alle Menschen systematisch getestet, sondern sie nur gebeten, sich für 14 Tage in häusliche Quarantäne zu begeben. Genau das wird jetzt nachgeholt.