Nach dem gewaltsamen Tod der Zwölfjährigen werden Rufe nach Strafmündigkeit für Kinder lauter. Ein Intensivpädagoge stellt sich dagegen und ordnet ein.
Luise (12) in Freudenberg getötetWie viele Straftaten werden von Kindern begangen?
Auf den ersten Blick wirken die Zahlen erschreckend: Mehr als 20.000 Kinder in Nordrhein-Westfalen standen im vergangenen Jahr im Verdacht, eine Straftat begangen zu haben. Verglichen mit dem Vorjahr zeigte sich dabei ein Zuwachs um 41 Prozent. Als Kinder gelten in diesem Sinne Personen, die aufgrund ihres Alters strafunmündig sind, also unter 14-Jährige. Etwa 67,5 Prozent der tatverdächtigen Kinder sind männlich.
Doch was sagen die Zahlen aus? Der Fall der zwölfjährigen Luise, die in Freudenberg mutmaßlich von zwei ihrer Freundinnen, zwölf und 13 Jahre alt, mit mehreren Messerstichen getötet wurde, wirft die Frage auf, wie oft Kinder in NRW zu Täterinnen oder Tätern werden. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen erfasst diese Zahlen Jahr für Jahr sehr detailliert.
Zusätzlich zur Polizeilichen Kriminalstatistik, in der sämtliche Straftaten sowie Tatverdächtige erfasst werden, veröffentlicht das Landeskriminalamt jährlich das gesonderte Lagebild Jugendkriminalität.
Bereits für das Jahr 2021 heißt es darin: „In der Altersgruppe der Kinder wurden im Berichtsjahr 2021 mehr Tatverdächtige als im Vorjahr erfasst.“ Die Gesamtzahl der unter 21-jährigen Tatverdächtigen ist derweil in den vergangenen zehn Jahren immer weiter gesunken. Das Lagebild für 2022 ist derzeit noch in Bearbeitung.
Unter 14-Jährige sind in Deutschland nicht strafmündig
Kinder unter 14 Jahre gelten in Deutschland als nicht strafmündig. Im Alter von 14 bis 17 Jahren ist man im Auge des Gesetzgebers ein Jugendlicher, für den immer Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Tatverdächtige, die zwischen 18 und 21 Jahre alt sind, gelten als Heranwachsende. In dieser Altersgruppe kann entweder noch das Jugendstrafrecht oder schon das Erwachsenenstrafrecht Anwendung finden.
Mag die Gesamtzahl der tatverdächtigen Kinder zunächst erschreckend hoch wirken, zeigt sich ein detaillierteres Bild, wenn man die Zahl in Verhältnis zur Gesamtbevölkerung setzt: Kinder unter 14 Jahren bilden einen Anteil von rund 13 Prozent an der gesamten Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig kommen nur etwa vier Prozent aller Tatverdächtigen aus dieser Altersgruppe.
Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Blick auf die Straffälligkeit der Gesamtbevölkerung: Während im Jahr 2022 rund 2,7 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal einer Straftat verdächtigt wurden, waren es in der Gruppe der 0- bis 14-Jährigen gerade einmal 0,9 Prozent – also weniger als eines von 1000 Kindern.
Der Düsseldorfer Intensivpädagoge Menno Baumann warnt ebenfalls vor einer Dramatisierung der Zahlen. „Der Wert der Kinderkriminalität bewegt sich in Deutschland wellenförmig und ist seit den 1990er Jahren auf einem sehr niedrigen, eher sinkenden Niveau“, sagte er gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Gründe für den damaligen Rückgang sieht Baumann in zahlreichen Maßnahmen, die damals ergriffen wurden und von denen Deutschland auch heute noch profitiert: „Gewalt in der Erziehung wurde geächtet, wir haben Sozialarbeiter in die Schulen geschickt, wir haben die Jugendämter ganz anders sensibilisiert. All diese Maßnahmen haben sich als wirkungsvoll erwiesen.“
Die Diskussion über eine Herabsenkung der Strafmündigkeit hält Baumann für absolut kontraproduktiv. Ein Blick in andere Länder zeige, dass Kinderhaft die Lage eher verschlechtere. „Die Rate derer, die ihre ganze Jugend immer wieder auch im Knast verbrachten und danach rückfällig werden, ist enorm hoch“, sagt Baumann und verweist auf das Beispiel England oder USA. „Wer jetzt eine Senkung der Strafmündigkeit fordert, der wird damit die Straffälligkeit von Kindern erhöhen. Kinder brauchen keine Strafe. Kinder brauchen Kompensation von Erziehungs- und Beziehungsdefiziten und gegebenenfalls therapeutische Hilfe.“
Kinder als Tatverdächtige vor allem bei Körperverletzung und Diebstahl
Werden Kinder wegen Tötungsdelikten oder schweren Sexualstraftaten verdächtigt, könne es natürlich auch bei Kindern nötig sein die Öffentlichkeit zu schützen. „In Extremfällen können auch Kinder keinen unbegleiteten Schritt mehr in Freiheit unternehmen“, sagt Baumann. Dann seien aber Einrichtungen mit einem hohen Personalschlüssel die richtige Wahl, die sehr bindungsorientiert arbeiten. Dort sei man auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen weit besser ausgerichtet als in einem Gefängnis.
Solch schwere Straftaten, auch das betont Baumann, seien bei Kindern aber keineswegs die Regel. Im Gegenteil. Von den insgesamt 643 Menschen in Nordrhein-Westfalen, die im vergangenen Jahr einer sogenannten Straftat gegen das Leben, zum Beispiel Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen, verdächtigt wurden, war keine einzige Person jünger als 14 Jahre. Delikte, bei denen Kinder als Tatverdächtige erfasst wurden, waren insbesondere Körperverletzungs- (5477 Tatverdächtige) sowie Diebstahlsdelikte (9166 Tatverdächtige).
Was Baumann mit Sorgen beobachtet, ist die Entwicklung in den Sozialen Medien. Kinder seien da schon sehr früh verstörenden, sexualisierten oder gewaltverherrlichenden Darstellungen ausgesetzt. „Der Druck ist enorm. Und das schaukelt sich hoch, weil alle denken: Was kann ich da noch Krasseres reinstellen, damit ich zum Star werde?“ Außerdem sieht Baumann weitere Faktoren für Kinder- und Jugendkriminalität: Die sich verschärfende Bildungsungerechtigkeit, die sich verschärfende Armut von Kindern im Kontext der Energiepreisentwicklung, die Eskalation auf dem Wohnungsmarkt. „Die Enge und die sozialen Brennpunkte, die dadurch entstehen, führen zu Gewalt. Damit machen wir vieles wieder kaputt, was wir in den vergangenen Jahren durch gute Sozialarbeit eigentlich richtig gemacht haben.“