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Plötzlich kann der Großteil von uns verzichtenWir lernen gerade dazu

Lesezeit 6 Minuten
Dom Köln menschenleer

Köln: Sonst voller Leben, ist dieser Tage eine menschenleere Stadt. 

  1. Noch nie wurden unsere persönlichen Freiheiten so stark eingeschränkt – Und wir? Machen fast alle mit.
  2. Plötzlich kann der Großteil von uns verzichten.
  3. Wir werden nicht einfach vergessen, was so ein Virus anrichten kann.
  4. Es zeigt uns auch, wo wir in der Vergangenheit nicht solidarisch genug waren. Ein Kommentar.

Köln – Den Pessimisten in uns nur das Vorwort: Eigentlich sind wir dem Virus gar nicht so unähnlich, kann man so denken. Ein Virus kennt keine Moral, las man in den vergangenen Tagen ja oft. Ein Virus will überleben und nun ist es hier und die Menschen wollen jetzt auch überleben, klar, und verlieren dabei dann und wann ihre Moral, so kann es einem zumindest erscheinen.

Schlägereien um Toilettenpapier und Dosenravioli. Jeder ist sich selbst am nächsten in dieser Krise und besser ist das ja. Dann ist man weit genug weg von denen, die einen anstecken könnten, mit Corona oder genauer: Coronavirus Sars-CoV-2.

Der, dessen vollständiger Name nicht behalten werden kann. Unsichtbarer Feind, gegen den wir keine Waffe haben, da kann Emmanuel Macron noch so oft den „Krieg“ erklären. Und die gehen jetzt wirklich noch in Parks und feiern Partys, während Menschen sterben? Kranke Dystopie, die sich Wirklichkeit nennt.

Man kann ja mal versuchen, das ganz anders zu sehen

Man kann so denken. Man kann das so sehen. Muss man aber nicht so sehen. Kann man eigentlich auch ganz anders sehen. Kann man ja mal versuchen, das ganz anders zu sehen.

Ein Optimist ist ein Mensch, der die Dinge nicht so tragisch nimmt, wie sie sind. Hat Karl Valentin gesagt. Und wenn man nicht mehr weiterweiß, wenn gerade alles doch ziemlich tragisch scheint, hilft ein Karl-Valentin-Zitat ja oft doch weiter.

Jenes lehrt uns, dass Krisen auch nur Deutungsfragen sind. Die Natur kennt keine Krisen, sie kennt nur den Lauf der Dinge. Es ist der Mensch, der manche dieser Dinge, die die ihn eben besonders tragisch treffen, dann Krise nennt.

Unsere Interpretationsmacht aber beschränkt sich nicht nur darauf, das schlechte zu finden – auch wenn eine Warnung davor natürlich wichtig ist, jetzt gerade zum Beispiel, um Leben zu retten. Doch man kann ihr die Hoffnung als Helfer zur Seite stellen.

Crisis, lateinisch, eine Entscheidung oder auch: eine entscheidende Wendung

Sicher, es wird wieder normal werden, irgendwann. Wir werden wieder ohne schlechtes Gefühl Bahn fahren und auf Konzerte gehen und unsere Großeltern umarmen. Und doch wird es ganz anders sein. Es wird keine Welt mehr geben, deren Logik ohne die Corona-Pandemie funktioniert. Wir werden nicht einfach so vergessen, was so ein Virus anrichten kann.

Wir lernen gerade dazu.

Etwa, dass wir zusammenstehen können, ohne uns nah zu sein. Klar, sind da die wenigen Idioten, die über die Angst vor papierlosen Toilettengängen ihren Anstand vergessen. Die Ignoranten, die den Ernst der Lage immer noch nicht verstanden haben. Wir sehen gerade vor allem sie, weil sie als einzige eine Öffentlichkeit betreten, die der Rest von uns brav meidet.

Und das allein schon ist doch Beweis einer unglaublichen Solidarität, die keimt, wo vor dem Ausbruch noch Individualismus wuchs. Plötzlich kann der Großteil von uns verzichten. Noch nie hat es eine solch große Einschränkung der persönlichen Freiheit in unserem Land gegeben. Und wir? Machen (fast) alle mit, ganz ohne zu maulen, ist ja selbstverständlich.

Ist es aber eigentlich gar nicht. Mit Freunden treffen, in den Urlaub fahren, mal eben eine Pizza holen. Wir sparen am kleinen und großen Luxus des Alltags, der uns vor Wochen noch unabdingbar schien. Die meisten tun das nicht, um sich selbst zu retten. Sondern um die Schwachen, die Alten und die Kranken, zu schützen. Was wir gerade erleben, ist ein Kraftakt der Humanität. Wir erleben, was eine Gesellschaft leisten kann, wenn sie zusammenhält.

Menschen, die zusammenhalten

Wir erleben aber auch, wie einzelne Menschen unsere Gesellschaft zusammenhalten: Einsatzkräfte, Pfleger, Ärzte, Supermarktmitarbeiter. Auch mit ihnen solidarisieren wir uns, wir klatschen für sie auf den Balkons und aus den Fenstern, jeden Abend. Danken ihnen.

Mehr können wir gerade nicht tun. In Wahrheit und für die Zukunft aber haben wir hoffentlich jetzt spätestens verstanden, dass wir schon lange viel mehr hätten tun müssen, dass diese Menschen mehr brauchen als den Applaus in der Krise. Hohe Anerkennung auch außerhalb von Notlagen etwa, höhere Löhne sowieso, würdige Arbeitsbedingungen.

Das Virus zeigt uns auch, wo wir in der Vergangenheit nicht solidarisch genug waren.

Deutschland könnte seine Klimaziele für 2020 erfüllen

Etwa in der Globalisierung, die zwar uns Industrieland-Bürgern nie dagewesenen Komfort bringt, Millionen anderen aber schon heute die Ausbeutung und in ein paar Jahren die Zerstörung ihrer Heimat durch die Erderwärmung.

Mit viel Mühe haben wir ihre irrsinnige Geschwindigkeit in den vergangenen Tagen in Zeitlupe versetzt. Und siehe da: Durch die verlangsamte Wirtschaft verziehen sich die Smogwolken über Peking und Shanghai, durch die ausbleibenden Touristen klaren die Kanäle in Venedig auf. Und Deutschland könnte seine Klimaziele für 2020, zuletzt für unerreichbar gehalten, doch noch erfüllen.

Die Pandemie als grüne Zwangsrettung zu sehen, wäre falsch. Aber wir merken gerade, dass es zumindest mit weniger auch irgendwie geht. Mit weniger Flügen, weniger Shoppen, weniger Überfluss. Wenn wir eine Lage nur ernst genug nehmen und endlich, endlich damit anfangen, auf Wissenschaftler zu hören.

Krisenmanagement in Pflichtgeschwindigkeit, um das Land zu entschleunigen

Dieselben Menschen, die zuletzt noch Greta Thunbergs Forderungen als Kindheitsfantasien abgetan haben, stecken nun freiwillig zurück. Derselbe Staat, der so tat, als ginge all das nicht so schnell, zeigt: Im Zweifel geht noch viel mehr und das innerhalb weniger Tage. Krisenmanagement in Pflichtgeschwindigkeit, um das Land zu entschleunigen.

Milliarden Euro an Startkapital für Selbstständige und Unternehmen liegen schon bereit, wenn wir bald unseren Konjunkturapparat wieder hochfahren, vielleicht in zwei, vielleicht in sechs Monaten. Und die Möglichkeit, unser Wirtschaftssystem nachhaltiger und gerechter zu gestalten, als es vor Corona war. Nicht nur, weil sich Konsumenten an den bewussten Verzicht gewöhnt haben. Sondern auch, weil sich viele Unternehmen in den vergangenen Wochen zwangsdigitalisieren mussten.

Die Chancen stehen gut, dass es besser sein wird

Es wird nicht wie vorher sein, wenn die Krise vorbei ist. Nein, die Chancen stehen gut, dass es besser sein wird, nach einiger Zeit. Wenn die Schmerzen über die Verluste langsam vergehen.

Der Schriftsteller Thomas Gsella hat vor einem Monat ein vielbeachtetes Gedicht veröffentlicht, es geht so:

„Quarantänehäuser spriessen / Ärzte, Betten überall / Forscher forschen, Gelder fliessen – Politik mit Überschall. Also hat sie klargestellt: Wenn sie will, dann kann die Welt.

Also will sie nicht beenden / Das Krepieren in den Kriegen / Das Verrecken vor den Stränden / Und dass Kinder schreiend liegen / In den Zelten, zitternd, nass. Also will sie. Alles das.“

Es ist keine Karl-Valentin-Sicht auf die Dinge, eher eine tragische. Doch auch ihr kann man eine Chance abringen: Die Welt und ihre Bürger merken gerade, vielleicht zum ersten Mal, was sie alles schaffen können, einfach dadurch, dass sie nicht mehr egoistisch, sondern dass sie aus Nächstenliebe handeln.

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Wer wird in Zukunft ernsthaft noch behaupten können, die Aufnahme von ein paar tausend Menschen in Not sei zu viel für dieses Land, das schon viel schwierigere Aufgaben, ebendiese Pandemie bewältigt hat? Karl Valentin hat auch gesagt: „Gar nicht krank ist auch nicht gesund.“

Hoffen wir, dass wir in den kommenden Monaten nicht nur das Coronavirus überwinden. Sondern auch die weiteren Leiden, die es in unserer Gesellschaft offengelegt hat.

Das Gegenmittel haben wir in den vergangenen Tagen bereits gefunden: Solidarität mit denen, die es schlechter haben als wir. Moral im Kampf gegen die, die keine kennen.

Na ja, und ausreichend Toilettenpapier.