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„Bürohengste, komplett fit“Breyers Renten-Doku provoziert in einer deutschen Schicksalsfrage

Lesezeit 5 Minuten
Jochen Breyer (rechts) hat eine Doku über das deutsche Rentensystem gemacht. „Tatort“-Star Axel Milberg spielt darin die Karikatur des deutschen Frührentners. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

Jochen Breyer (rechts) hat eine Doku über das deutsche Rentensystem gemacht. „Tatort“-Star Axel Milberg spielt darin die Karikatur des deutschen Frührentners. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

„Das derzeitige Rentensystem könnte uns in den Abgrund führen“, heißt es in einer neuen ZDF-Reportage von und mit Jochen Breyer. Mit den deutschen (Früh-)Rentnern geht der Film nicht eben zimperlich um. Arbeitsminister Hubertus Heil gibt ein vielsagendes Interview.

Dunkle Wolken ziehen auf über Deutschland. An Bord des Kreuzfahrtdampfers der MSC-Gruppe aber knallen die Korken. „Prost auf eine tolle Zeit, die wir haben werden. Und Ihr müsst arbeiten dafür“, frohlockt Passagierin Ute gegenüber ZDF-Reporter Jochen Breyer: „Das ist der sogenannte Generationenvertrag!“

Ute und ihr Mann Thomas machen in diesem Jahr schon die dritte Kreuzfahrt, diesmal den Klassiker Skandinavien mit Spitzbergen und Nordkap. 15 Tage Balkonkabine. Zeit genug haben sie. Beide sind vorzeitig mit 63 in Rente gegangen. „Also, ich hab mir nicht die Wolle ausm Popo gearbeitet. Mein Mann auch nicht“, gibt Ute zu, die in der Logistikbranche angestellt war.

Arbeitsminister Hubertus Heil (links) traf ZDF-Reporter Jochen Breyer zum Interview. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

Arbeitsminister Hubertus Heil (links) traf ZDF-Reporter Jochen Breyer zum Interview. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

„Hätten Sie denn auch weiterarbeiten können?“, fragt der Reporter. Beide bejahen, ohne zu zögern. „Körperlich schwer war das nicht“, bekundet Thomas, ehemalige Fachkraft in der Chemie. Aber jetzt, nach fast 48 Jahren im Job, reiche es auch mal. Und: „Nein, ich hab' kein schlechtes Gewissen, um die Frage zu beantworten.“ Dabei wurde die Frage gar nicht gestellt.

„Die Renten-Titanic fährt seit 50 Jahren in Richtung eines Eisbergs“

Man kann über die Reportagen von Jochen Breyer sagen, was man will. Ein Talent, plakative bis provokante Gesprächsszenen zu kreieren, hat er wie kein Zweiter. Man denke nur an den WM-Botschafter aus Katar, dem er 2022 mit arglos-naivem Lächeln im Gesicht empörende Aussagen über Homosexuelle entlockt hatte. Dabei dürfte sein neues Sujet noch viel tiefer die Wutnerven der Deutschen malträtieren. „Die Wahrheit über unsere Rente“ verspricht sein neuer Film, den er mit Julia Friedrichs und Steffi Unsleber realisiert hat.

Diese Wahrheit sieht ziemlich finster aus. Drei sogenannnte Wirtschaftsweise, also Mitglieder des Sachverständigenrats der Bundesregierung, rechnen die Fakten im ZDF-Film vor. Rund 15 Millionen Babyboomer gehen in den kommenden Jahren in Rente. „Wir werden in Zukunft nicht mehr genug Beitragszahlerinnen und Beitragszahler haben“, prognostiziert die Vorsitzende des Rats, Monika Schnitzer.

Japan hat den demografischen Wandel schon hinter sich, wie Jochen Breyer vor Ort feststellen kann. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

Japan hat den demografischen Wandel schon hinter sich, wie Jochen Breyer vor Ort feststellen kann. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

1950 kamen sechs Beitragszahler auf einen Rentner, 2035 werden es nur noch zwei sein. Bekannt ist diese demografische Verschiebung seit den 80er-Jahren. Breyer gibt sich bass erstaunt: „Die Renten-Titanic fährt seit 50 Jahren in Richtung eines Eisbergs, den wir die ganze Zeit gesehen haben?“

Von wegen „Dachdecker“: „Die Rente mit 63 nutzen vor allem Bürohengste“

„Das Bild finde ich gut“, bestätigt die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier. „Das war komplett vorhersagbar.“ In ihren Augen kann das derzeitige Rentensystem „uns in den Abgrund führen“. Alle drei beklagen, sie würden bei keinem anderen Thema von den Regierenden so sehr ignoriert wie bei der Alterssicherung. Und sie bekämen bei keinem anderen so viele Hassnachrichten.

Runterkühlen ist die Sache der Filmemacher dennoch nur bedingt. Damit der Blutdruck beim reiferen ZDF-Publikum nur ja auf Pegel kommt, spielt der (vor der Kommissarsrente stehende) „Tatort“-Star Axel Milberg in eingestreuten Wirtshaus-Szenen die Karikatur eines deutschen Frührentners, der es sich auf Kosten von immer weniger Jungen gut gehen lässt. „Jeder kennt Typen wie mich. Früher guter Bürojob, jetzt gute Rente“, sagt Milberg in der sich selbst kommentierenden Unsympathenrolle.

In Japan stellt Jochen Breyer fest: Überall im Stadtbild sieht man teilweise hochbetagte Arbeiter. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

In Japan stellt Jochen Breyer fest: Überall im Stadtbild sieht man teilweise hochbetagte Arbeiter. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

Den Altersgenossen gibt er Fakten rezitierend fröhlich einen mit: „Altersarmut ist nicht die Mehrheit.“ Und: „Es gibt viel mehr arme Kinder als arme Rentner in Deutschland.“ Der von Sozialpolitikern viel zitierte „Dachdecker“, der irgendwann nicht mehr könne, höre ohnehin viel eher auf. „Die Rente mit 63 nutzen vor allem Bürohengste. Von denen sind neun von zehn komplett fit.“

Zu Besuch in Franz Münteferings Ü-60-Kaffeegruppe

Japan hat die demografische Krise schon hinter sich, wie sich Jochen Breyer vor Ort überzeugen kann. In den Läden: Seniorenwindeln statt Babywindeln. Im Stadtbild: überall teils hochbetagte Arbeiter. Während die Deutschen im Schnitt zwei Jahre vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter aufhörten, arbeiteten die Japaner sechs Jahre länger, heißt es im Film. In einer Zeitarbeitsfirma für über 60-Jährige macht zum Dienstbeginn die ganze Firma Gymnastikübungen. Der Leiter informiert seinen Gast aus Europa: „Arbeit ist auch Freude und gibt Menschen einen Lebenssinn.“

Und in Deutschland? Da war SPD-Urgestein Franz Münterfering der Letzte, der eine Anhebung des Rentenalters auf 67 vorangetrieben hat. Ohne Erfolg. Seine Parteigenossin Andrea Nahles führte dann später sogar die Frührente mit 63 ein. Ein Fehler, wie Münterfering, inzwischen 84 Jahre alt, noch immer findet.

Steuert Detuschland auf den Crash seiner Altersvorsorge zu? Jochen Breyers Film verspricht „Die Wahrheit über unsere Rente“. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

Steuert Detuschland auf den Crash seiner Altersvorsorge zu? Jochen Breyers Film verspricht „Die Wahrheit über unsere Rente“. (Bild: ZDF / Nicolai Mehring)

Breyer begleitet den einstigen Vizekanzler im ersten Kabinett Merkel zur Ü-60-Kaffeegruppe der SPD Sauerland. „Münte“ ist hier ein Star. Aber seine Rente ab 67 fanden damals wie heute alle doof. „Wer von ihnen wäre heute bereit eine Reform zu akzeptieren, bei der auch die Rentnerinnen und Rentner Abstriche machen müssten zugunsten der jüngeren Generation?“, fragt Breyer in die Runde. Das Ergebnis: kein Einziger. „Unmöglich! Geht gar nicht!“, ereifert sich einer. „Wenn du nicht irgendwie Reserven hast, bist du pleite.“

„Im Grunde bestimmen ältere Personen in Deutschland, was die Politik machen kann“

Heute ist wieder ein Sozialdemokrat Arbeitsminister. Auch er gibt Jochen Breyer für den Film ein Interview. Breyer spricht Hubertus Heil frontal auf den überragenden Konsens deutscher Ökonomen an: „Haben die denn alle keine Ahnung, Herr Heil?“ - „Die haben Meinungen“, kommt es zurück. Breyer hält dagegen: „Die rechnen das ja aus.“

Den Renteneintritt der Babyboomer will Heil unbeirrt allein aufseiten der Beitragszahler einpreisen. Das würde dafür sorgen, „dass sich auch die jüngeren auf das System verlassen können“, findet er. Breyer trägt die Behauptung des SPD-Ministers zum Wirtschaftsweisen Martin Werding. Der kommentiert brüsk: „Ich finde das Argument, es sei doch auch im Interesse der Jüngeren, das Rentenniveau zu stabilisieren, schon annähernd unverschämt.“ Alle unter 50 seien die Verlierer von Heils Rentenplänen.

Was die Wirtschaftsweisen konkret fordern: ein höheres Renteneintrittsalter; Rentensteigerung nicht mehr mit den Löhnen, sondern nur noch mit der Inflation; Umverteilung von höheren zu niedrigeren Renten; eine Aktienrente nach schwedischem Vorbild; die Eingliederung der Beamten in die gesetzliche Rente. Nichts davon ist in Aussicht.

„Das ist Wahlkampf“, zuckt Monika Schnitzer im Interview mit Schultern. Martin Werding erläutert: „Die Anreize für Politikerinnen, 15, 20 Jahre in die Zukunft zu denken, sind sehr gering.“ 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Deutschland sind über 60 Jahre alt. Das spiegelt sich in den Wahlprogrammen. Der Wirtschaftsweise Werding: „Im Grunde bestimmen ältere Personen in Deutschland, was die Politik machen kann.“

Potztausend! Mit seiner Stamm-Zuseherschaft hat sich das ZDF lange nicht mehr so beherzt angelegt.

„Die Wahrheit über die Rente“ läuft am Dienstag, 14. Januar, 20.15 Uhr, im ZDF und vorab in der ZDF-Mediathek. (tsch)