AboAbonnieren

„Wir haben das Vertrauen verloren“Jessy Wellmer spricht über ihre TV-Reportage in Thüringen

Lesezeit 9 Minuten
„Es ist mir ganz schön viel Spaltung und Polarisierung begegnet“, berichtet Jessy Wellmer über ihre Recherchen  vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. (Bild: rbb/Thomas Ernst)

„Es ist mir ganz schön viel Spaltung und Polarisierung begegnet“, berichtet Jessy Wellmer über ihre Recherchen vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. (Bild: rbb/Thomas Ernst)

Die „Tagesthemen“-Moderatorin hat sich für eine Reportage in Thüringen begeben, um der wachsenden Demokratieskepsis auf den Grund zu gehen.

Selten haben Landtagswahlen bundesweit so viel Aufmerksamkeit erregt wie jene in Sachsen und Thüringen. Gespannt und bisweilen auch besorgt erwarten Medien und Politik die Ergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern, die das Parteiengefüge gehörig durcheinanderwirbeln könnten. Wenige Tage vor diesen so wichtigen Wahlen blickt Jessy Wellmer in ihrer ARD-Reportage auf die Stimmung vor Ort: „Machen wir unsere Demokratie kaputt?“ (Montag, 26. August, 20.15 Uhr) ist der zur Primetime ausgestrahlte Film der „Tagesthemen“-Moderatorin betitelt, die Bürger, Politiker und Experten befragt und begleitet hat.

Weshalb sehen einige Menschen unsere Staatsform skeptisch? Was wollen die Kritiker - und warum sind sie im Osten besonders zahlreich? Diesen Fragen versucht die im mecklenburgischen Güstrow geborene Journalistin, die die Auseinandersetzung mit den ostdeutschen Besonderheiten einmal als ihr „Lebensthema“ bezeichnete und sich diesem zuletzt auch in ihrem Buch „Die neue Entfremdung“ näherte, auf den Grund zu gehen.

teleschau: Frau Wellmer, welchen Eindruck haben Sie kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen vom Wahlkampf und der Stimmung vor Ort? Ist die Gesellschaft so gespalten und polarisiert wie oft dargestellt?

Jessy Wellmer: Ich war in der Oberlausitz, im Erzgebirge oder in Oberhof - das Wetter ist schön, die Landschaft wie gemalt, die Häuser sind rausgeputzt und hübsch, die Menschen freundlich und gesprächig. Und man fragt sich: Wo soll sie denn hier sein, die schlechte Laune, die Wut und der Extremismus? Und dann fängt man an, mit Leuten über Politik zu sprechen, und merkt: Sehr viele haben eigentlich abgeschlossen „mit der Politik“, „mit denen da oben“, mit Ampel, CDU und „dem Westen“. Also: Ja, es ist mir ganz schön viel Spaltung und Polarisierung begegnet.

teleschau: Der Titel Ihrer Dokumentation lautet „Machen wir unsere Demokratie kaputt?“ - Wie gefährdet scheint Ihnen die Grundlage unserer Gesellschaft?

Wellmer: Ich habe keine Menschen getroffen, die sagen: Schluss mit der Demokratie! Es ist eher andersrum - so wie beim Witz mit dem Geisterfahrer. Die fühlen sich in der Mehrheit - auch bestärkt durch Nachbarschaft und soziale Medien - und denken: „Die Eliten“, „die Westdeutschen“ oder „die Ampel“ setzen sich über den gefühlten „Volkswillen“ hinweg und schaffen die Demokratie von oben ab. Die behaupten dann voller Überzeugung, in Deutschland dürfe man über Migration nicht sprechen. Und sie übersehen, dass buchstäblich überall darüber gesprochen und geschrieben wird und dass das ganze Land darum ringt, wie wir künftig mit Migration umgehen wollen. Mir ist außerdem immer wieder der Satz begegnet: „Es muss sich etwas ändern!“ Menschen gehen demonstrieren, kleben sich auf der Straße fest oder wählen populistische und extremistische Parteien, „damit sich etwas ändert“.

teleschau: Was genau soll sich aus der Sicht dieser Menschen denn ändern?

Seit Oktober 2023 moderiert Jessy Wellmer die „Tagesthemen“. „Im Beruf Moderatorin steckt ja schon die Vermittlung“, sagt sie über ihre Rolle.
 (Bild: NDR/Henrik Lüders)

Seit Oktober 2023 moderiert Jessy Wellmer die „Tagesthemen“. „Im Beruf Moderatorin steckt ja schon die Vermittlung“, sagt sie über ihre Rolle. (Bild: NDR/Henrik Lüders)

Wellmer: Damit meinen die Menschen unter Umständen sehr verschiedene Dinge. Aber es eint sie das Gefühl, es gebe sehr große Probleme, eine Bedrohung des Wohlstands und der Lebensgrundlagen - und die in Bund und Ländern regierenden Parteien finden darauf keine Antworten. Viele haben das Vertrauen in die Institutionen und Mechanismen der Demokratie verloren, oder es ist zumindest ganz schön angeknackst.

teleschau: Würden Sie sagen, dass es sich bei dieser Demokratieskepsis vor allem um ein ostdeutsches Phänomen handelt?

Wellmer: Wir blicken jetzt alle nach Brandenburg, Sachsen und Thüringen und die aktuellen Umfragen dort. Aber dieser Vertrauensverlust begegnet mir auch in Köln, Hamburg oder Berlin. Im Osten kommen aus meiner Sicht ein paar verstärkende Faktoren hinzu: Das ist die ostdeutsche Unsicherheitserfahrung in der Zeit nach der Wiedervereinigung, das ist die ohnehin schwächere Verankerung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Organisationen - Parteien, Gewerkschaften, Vereine, Initiativen. Und das ist die weiter fortgeschrittene Alterung der Gesellschaft. Die Menschen sind vielleicht auferstanden aus Ruinen, aber sie sind weniger der Zukunft zugewandt als jüngere Gesellschaften. Und dass Kinder und Enkel weggezogen sind und im Westen leben, verstärkt das Gefühl, allein gelassen zu sein.

Jessy Wellmer: „Da gibt es Ost-West-Konflikte innerhalb von Ost-Familien“

teleschau: Alle paar Jahre wird die Diskussion über Ost-West-Gräben neu entfacht, während die prognostizierte Nivellierung der Unterschiede durch den Wechsel der Generationen nicht eingetreten ist. Stattdessen scheint auch in der jüngeren Ost-Generation, die DDR und Nachwendezeit höchstens als Kinder erlebten, das Gefühl der „Andersartigkeit“ vorzuherrschen. Woher rührt das?

Wellmer: Das „Gefühl der Andersartigkeit“ ist mir gerade bei Jüngeren im Osten auch als Stolz und Selbstbewusstsein begegnet. Aber es gibt natürlich auch die Gefühle der Zweitklassigkeit oder des Abgehängtseins, und die werden, glaube ich, in ostdeutschen Familien im Osten auch sehr erfolgreich an die nächste Generation „vererbt“. Das ist aber oft bei Familien, bei denen die nächste Generation in den Westen gegangen ist, viel weniger ausgeprägt. Da gibt es Ost-West-Konflikte innerhalb von Ost-Familien.

teleschau: Glauben Sie, dass die jüngsten politischen Entwicklungen in Deutschland die Kluft zwischen Ost und West weiter vertieft haben? Zuletzt blickten Sie in einer Doku etwa auf das Russlandbild der Ostdeutschen nach Putins Überfall auf die Ukraine ...

„Machen wir unsere Demokratie kaputt?“, fragt Jessy Wellmer in ihrer neuen ARD-Reportage. Über die Demokratieskeptiker, die ihr begegneten, sagt sie: „Es eint sie das Gefühl, es gebe sehr große Probleme, eine Bedrohung des Wohlstands und der Lebensgrundlagen“. (Bild: NDR/Felix Korfmann/beckground tv,)

„Machen wir unsere Demokratie kaputt?“, fragt Jessy Wellmer in ihrer neuen ARD-Reportage. Über die Demokratieskeptiker, die ihr begegneten, sagt sie: „Es eint sie das Gefühl, es gebe sehr große Probleme, eine Bedrohung des Wohlstands und der Lebensgrundlagen“. (Bild: NDR/Felix Korfmann/beckground tv,)

Wellmer: Ich glaube, dass der Blick in Ost und West auf Russland, aber auch auf die Bedrohung durch Russland unterschiedlich ist. Das ist im Osten nicht nur eine mögliche größere Sympathie, ein größeres Verständnis oder eine Solidarisierung, sondern bei vielen auch die Überzeugung: Leg dich nicht mit den Russen an - das ist noch nie gut gegangen. Die Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine wurde im Osten von vielen als Bestätigung dafür empfunden, dass „der Westen“ auf dem falschen Weg sei. Ich glaube aber auch, dass Corona und das damit empfundene Gefühl der Ohnmacht und Entmündigung mindestens genauso stark zum Vertrauensverlust in die Regierenden beigetragen hat. Wir leiden als Gesellschaft in Ost und West gewissermaßen unter „Long Covid“ - einem langen Nachwirken der Erschütterung, die die Pandemie bei uns ausgelöst hat.

teleschau: Mit Ihrem Buch „Die neue Entfremdung“ haben Sie sich Anfang des Jahres in einen Diskurs eingeschaltet, der mit Blick auf Autoren wie Dirk Oschmann oft auch kontrovers geführt wird. Welches Fazit ziehen Sie ein halbes Jahr nach Erscheinen?

Wellmer: Ich habe vor allem viel freundliche Reaktionen erfahren. Viele, die sich bei mir gemeldet haben oder denen ich auf Lesungen begegnet bin, haben es als positiv empfunden, dass mein Buch eben nicht polarisierend ist, sondern einen Vermittlungsversuch unternimmt. Dass ich die Leserinnen und Leser an meinem Hadern und meinen Unsicherheiten teilhaben lasse. Besonders ausgeprägt ist die Zustimmmung bei Menschen meiner Generation, die selbst ein Leben im vereinigten Deutschland - in West und Ost - führen und die Entfremdung und die Konflikte in ihren eigenen Familien erleben.

teleschau: Können Sie kurz anreißen, worin das „Neue“ dieser Entfremdung zwischen Ost und West Ihrer Ansicht nach besteht?

Wellmer: Mein Eindruck war: Wir waren auf dem Weg zum vereinigten Deutschland eigentlich schon ganz schön weit. Zufriedenheit und Zuversicht waren auch im Osten gewachsen, und dann ist - durch Flüchtlingskrise, Corona und den russischen Angriff - wieder etwas aufgebrochen, was ich für geheilt hielt oder wenigstens auf dem Weg der Besserung.

„Das Problem ist, dass viele nur noch mit denen reden, die ihrer Meinung sind“

teleschau: Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien bei der Vermittlung eines differenzierten Bildes von Ostdeutschland und seiner Bevölkerung? Trifft der Vorwurf mancher Ostdeutscher zu, sie würden nicht gehört und von West-Medien oft nur schablonenhaft dargestellt?

Für ihren Film sprach Jessy Wellmer unter anderem mit dem Soziologen Steffen Mau. (Bild: NDR/Felix Korfmann/beckground tv,)

Für ihren Film sprach Jessy Wellmer unter anderem mit dem Soziologen Steffen Mau. (Bild: NDR/Felix Korfmann/beckground tv,)

Wellmer: Das hat sich sehr geändert. Heute sitzen in allen überregionalen Redaktionen junge, kluge Ostdeutsche, die es sich nicht einfach machen und die eben gerade nicht schablonenhaft ein Bild des Landes zeichnen. Aber es stimmt schon: Lange haben Zeitungen, Magazine und auch Sender den Osten betrachtet wie ein Einsatzgebiet für ihre Auslandskorrespondenten. Und sie sind immer nur aufgewacht, wenn geprügelt, krakeelt oder verschwendet wurde. Da ist auch ein Bild entstanden, das lange nachwirkt. Was ich heute erlebe, ist, dass Menschen, die sich im Osten für Demokratie, Rechtsstaat und Minderheitenrechte einsetzen, Angst haben, dass der Rest des Landes sie allein lässt, weil man den Osten abschreibt.

teleschau: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Missverständnisse, die zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen existieren?

Wellmer: Naja, das Missverständnis besteht eben darin: dass Westdeutsche alle Ostdeutschen in einen Topf werfen und nicht bereit sind, die Diversität der ostdeutschen Gesellschaft zu sehen und anzuerkennen. Und umgekehrt ist es natürlich genauso. Nicht alle Ossis sind rechtsradikal, nicht alle Wessis sind rechthaberische Ausbeuter. Ich erlebe, dass Menschen mir mit Ablehnung begegnen, weil ich in ihren Augen Repräsentantin eines öffentlich-rechtlichen Staatsfunks bin. Und dann kann man irgendwann doch reden - auch darüber, worüber man sich nicht einig ist. Kontakt weicht Fronten auf. Das Problem ist, dass viele nur noch mit denen reden, die ihrer Meinung sind. Und dann schaukelt man sich miteinander hoch. Ich weiß, der Rat „Redet mehr miteinander“ klingt naiv - aber ohne Dialog wird's nicht gehen.

teleschau: Sie sprachen für Ihren Film mit unterschiedlichsten Protagonisten, vom Kabarettisten bis zu Bürgern und Politikern. Gab es ein Gespräch, das Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben ist - und Sie vielleicht überrascht hat?

Wellmer: Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker ist vor neun Jahren von einem rechtsextremistischen Messerstecher fast umgebracht worden. Sie ist bis heute fassungslos, dass dieser Mann entschlossen war, sie zu töten - weil sie anderer Meinung war als er. Aber Reker macht trotzdem weiter. Dirk Neubauer, der Landrat Mittelsachsens, hingegen hört auf, weil er die Bedrohungen und Anfeindungen nicht mehr erträgt, aber auch die fehlende Unterstützung von Politik und Bürgern gleichermaßen vermisst. Sein Schmerz über sein Scheitern, wie er seinen Rückzug nennt, wirkt sehr eindringlich.

„Für mich hat das lange keine Rolle gespielt“

teleschau: Wann begannen Sie, sich bewusst mit Ihrer eigenen ostdeutschen Identität und den Unterschieden im wiedervereinigten Deutschland intensiver auseinanderzusetzen?

Wellmer: Für mich hat das lange keine Rolle gespielt. Ich bin zum Studium nach Berlin gegangen, ich arbeite in Berlin, Köln oder Hamburg, und ich habe niemals eine Benachteiligung erfahren, weil ich aus dem Osten bin. Ich bin mit einem Westdeutschen verheiratet, meine Kinder wachsen im vereinigten Deutschland auf. Wir haben immer diskutiert und auch darüber gestritten, was war und was ist. Aber in den letzten Jahren ist mir dann diese wachsende Wut im Osten, diese weiter bestehenden und wieder wachsenden Missverständnisse in Ost und West begegnet - und irgendwann habe ich festgestellt: Das spielt doch eine ganz schön große Rolle in deinem Leben.

teleschau: Sehen Sie es als eine Art Aufgabe an, als prominente Ostdeutsche, die gesamtdeutsch bekannt ist und gehört wird, mit Ihren Büchern und Dokus zwischen Ost und West zu vermitteln respektive das gegenseitige Verständnis zu fördern?

Wellmer: Im Beruf Moderatorin steckt ja schon die Vermittlung. Bei den „Tagesthemen“ geht es uns ja auch darum, Dinge zu erklären, transparent zu machen. Insofern sehe ich die Arbeit in Hamburg im Studio und unterwegs in Zittau, Berlin oder Köln gar nicht so sehr als getrennte Tätigkeiten. (tsch)