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„Ich dachte, ich müsste sterben“Jugendliche berichten über „Albtraum“ US-Erziehungscamp

Lesezeit 3 Minuten
Mit Einrichtungen wie dieser werden in den USA Millarden-Beträge umgesetzt. Die White Lake Academy in Delta, Utah, verlangt pro Tag etwa 400 Dollar für die Umerziehung. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Mit Einrichtungen wie dieser werden in den USA Millarden-Beträge umgesetzt. Die White Lake Academy in Delta, Utah, verlangt pro Tag etwa 400 Dollar für die Umerziehung. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Schikane, Überwachung, körperliche Misshandlung: Eine ZDF-Doku wirft einen schockierenden Blick hinter die Kulissen von US-Umerziehungscamps. 

Betroffene und Angehörige organisieren sich in der NGO Unsilenced. Sie wollen erreichen, dass die „Troubled Teen Industry“ reguliert wird. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Betroffene und Angehörige organisieren sich in der NGO Unsilenced. Sie wollen erreichen, dass die „Troubled Teen Industry“ reguliert wird. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Kauernd auf dem Boden einer ein Quadratmeter großen Telefonzelle würde man Paris Hilton nicht unbedingt erwarten. Dass bei der 44-Jährigen obendrein Tränen fließen, hat mit einem Trauma zu tun. Als Jugendliche wurde sie von ihren Eltern in ein Umerziehungscamp gesteckt - ein Schicksal, das die Multimillionärin mit zig tausend anderen Menschen in den USA teilt. Die ZDF-Doku „USA extrem: Höllencamps für Teenager“ (ab sofort in der ZDFmediathek) wirft einen Blick auf ein mitunter brutales System, das der Troubled Teen Industry jährlich Milliarden von US-Dollar in die Kassen spült.

Im aufrüttelnden Film von Réjane Varrod erzählen einige Betroffene von ihren Schicksalen. Oder sollte man von Überlebenden sprechen? Alleine seit 2019 ließen mehr als 40 Kinder ihr Leben in derlei Internaten. Auch bei Meredith McCuskey war es nach eigener Aussage kritisch. Die heute 23-Jährige wurde als Jugendliche von ihrer Mutter in ein fünfmonatiges Wüstencamp geschickt. „Ich dachte, ich müsste sterben“, erinnert sie sich an eine Wanderung zurück, bei der ihr das Trinken von Wasser verweigert worden sei.

In den Internaten werden die vermeintlich schwierigen Kinder teils heftig misshandelt. Isolationszellen, Schikanen und Zwangsfixierungen verursachen tiefe Traumata. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

In den Internaten werden die vermeintlich schwierigen Kinder teils heftig misshandelt. Isolationszellen, Schikanen und Zwangsfixierungen verursachen tiefe Traumata. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

„Ich habe das Gefühl, ich finde einfach nicht mehr in die reale Welt zurück“, plagt McCuskey das Trauma von damals bis heute: „Ich habe Angst vor der Welt, den Menschen.“ Sie lebt in einem Auto, nur langsam baut sie wieder ein Vertrauensverhältnis zu ihrer Mutter auf. Die räumt mit dem Wissen von heute ein: „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, hätte ich sie nicht in dieses Programm geschickt.“

400 Dollar täglich für Zustände wie beim US-Militär: TV-Doku zeigt Zustände in US-Umerziehungscamps

Die Idylle trügt. Tausende Kinder werden an private Internate in den USA teils gewaltsam verschleppt und dort festgehalten. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Die Idylle trügt. Tausende Kinder werden an private Internate in den USA teils gewaltsam verschleppt und dort festgehalten. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Doch wie sieht das Leben wirklich aus hinter den Mauern der Internate, die in ihren Imagevideos oft als idyllische Ferienfreizeiten euphemisiert werden? „Wenn sie hier chaotisch sind, sind sie das meist auch im wahren Leben“, schließt Justin Nielson, Schulleiter an der White River Academy in Delta, vom Zustand der Spinde seiner Schüler auf deren Charakter. Neuankömmlingen wird wie beim US-Militär der Kopf geschoren, die Räume sind trist-funktional eingerichtet. Alarme sichern die Fenster der Schlafräume, und Kameras in den Räumen überwachen die Schüler 24/7.

Trotz einiger Todesfälle in privaten Internaten in den USA ist deren Geschäft in weiten Teilen noch nicht reguliert. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Trotz einiger Todesfälle in privaten Internaten in den USA ist deren Geschäft in weiten Teilen noch nicht reguliert. (Bild: ZDF/10.7 PRODUCTIONS)

Von den 21 Teenagern werden 14 täglich teils mit mehreren Medikamenten behandelt, ausgegeben von einem Mitarbeiter ohne medizinische Ausbildung. Selbst die Zeiten für den Toilettengang sind strikt reglementiert und müssen in einem Anmeldebuch dokumentiert werden. „Dann sind sie nicht so lange unbeaufsichtigt“, erklärt Nielson. Die Eltern der Kinder sind außen vor. Mehr als zehn Minuten Telefonieren und ein Besuch alle drei Monate sind nicht drin. Dafür bezahlen sie an der White River Academy 400 US-Dollar - pro Tag. Eine ordentliche Summe angesichts von eineinhalb bis drei Jahren Aufenthalt im Internat.

13-Jähriger nach „Albtraum“ in Umerziehungcamp: „Ich vermisse mein altes Selbst“

Nicht immer landen Kinder aber auf Betreiben der Eltern in den Umerziehungslagern. Mitunter mischt auch das Sozialamt mit - wie im Fall des 13-jährigen Logan. Als seine Mutter wegen eines Nervenzusammenbruchs im Krankenhaus landet, will sich seine Tante zu ihm kümmern. Doch die Behörden entscheiden: Der Junge muss ins Internat. Obwohl er kerngesund ist, wird er umgehend unter Medikamente gesetzt, die eigentlich bei Schizophrenie verabreicht werden. Zwei Wochen verbringt er in absoluter Isolation in einem komplett leeren Raum, ohne Toilette.

„Seit ich raus bin, muss ich ständig daran denken“, erinnert sich Logan in der ZDF-Doku an den „Albtraum“ zurück. Der Aufenthalt habe ihn verändert, schätzt er ein: „Ich vermisse mein altes Selbst. Ich war so glücklich, voller Energie.“ Über die Zeit an der „misshandelnden Schule“ spricht er nicht gerne, ringt sich aber zu einer Botschaft an seine einstige Schule durch: „Wenn sie es sehen: Sie gaben mir das Gefühl, dass ich ein schlechtes Kind bin und dass ich nicht in die Welt da draußen gehöre. Da lagen sie falsch.“ (tsch)