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Nach Neujahrs-KrimiEntführung, aber keine Forderung - gibt es das überhaupt?

Lesezeit 5 Minuten
Johanna Stern (Lisa Bitter, links) und Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) analysieren den Tatort: Ein Kind wurde entführt. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Johanna Stern (Lisa Bitter, links) und Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) analysieren den Tatort: Ein Kind wurde entführt. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Im interessanten Neujahrsfall „Tatort: Der Stelzenmann“ treffen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) auf einen Kindesentführer, der keine Lösegeld- oder andere Forderungen hat.

Wenn ein Kind entführt wird, geht es normalerweise um ein Familiendrama, also Kindesentzug, oder im Falle von Prominenten und sehr wohlhabenden Personen um klassische Lösegeldforderungen. Äußerst selten hört man von Fällen wie jenem von Natascha Kampusch in Österreich, bei denen ein psychopathischer Täter über lange Zeit Kinder gefangen hält.

Neues Jahr, neuer Fall: Lena Odenthal (Ulrike Folkerts, links) und Johanna Stern (Lisa Bitter) bekommen es im ersten „Tatort“ des Jahres 2025 mit dem „Stelzenmann“ zu tun. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Neues Jahr, neuer Fall: Lena Odenthal (Ulrike Folkerts, links) und Johanna Stern (Lisa Bitter) bekommen es im ersten „Tatort“ des Jahres 2025 mit dem „Stelzenmann“ zu tun. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Auch wenn der Neujahrsfall „Tatort: Der Stelzenmann“ mit den Kommissarinnen Odenthal (Ulrike Folkerts) und Stern (Lisa Bitter) noch am ehesten in die letztgenannte Kategorie gehört, war er dennoch ungewöhnlich: Der Täter wollte nur eine gewisse Zeit Macht über das Kind ausüben, er hatte offenbar keine sexuellen Motive und ließ sein Opfer, das er mit einer Drohung zum Schweigen verurteilte, danach wieder frei.

Gibt es einen Fall im wahren Leben, der diesem „Tatort“-Plot ähnelt? Und woher kennt man das ehemalige Opfer aus dem Film, den 18-jährigen Swen? Dessen Gesicht sollte man sich übrigens merken.

Worum ging es?

Kommissarin Johanna Stern (Lisa Bitter, rechts) kümmert sich um Ellen Wagner (Lisa Hofer), die Mutter des entführten Jungen. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Kommissarin Johanna Stern (Lisa Bitter, rechts) kümmert sich um Ellen Wagner (Lisa Hofer), die Mutter des entführten Jungen. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Der achtjährige Paul wurde auf offener Straße entführt. Die alte Nachbarin, die das Kind gut kennt, beobachtete noch, wie der Junge in einen schwarzen Wagen gezerrt wurde. Danach wurde sie von selbigem brutal überfahren. Mit den verzweifelten Eltern (Lisa Hofer, Reza Brojerdi) warteten die Ludwigshafener Ermittlerinnen darauf, dass eine Lösegeldforderung eingeht.

Johanna Stern (Lisa Bitter) hat einen guten Draht zum 18-jährigen Swen (Samuel Benito) aufgebaut. Er war vor neun Jahren Opfer einer Entführung, die sehr ähnlich ablief. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Johanna Stern (Lisa Bitter) hat einen guten Draht zum 18-jährigen Swen (Samuel Benito) aufgebaut. Er war vor neun Jahren Opfer einer Entführung, die sehr ähnlich ablief. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Doch Paul blieb ohne konkrete Forderung der Entführer verschollen. Die Kommissarinnen stießen auf einen neun Jahre zurückliegenden Fall, der ähnlich gelagert war. Der mittlerweile 18-jährige Swen (Samuel Benito) wurde in Pauls Alter entführt und ohne Forderungen nach längerer Gefangenschaft freigelassen. Leider konnte er danach kaum etwas über seine Zeit bei den Entführern erzählen. Gelang es Odenthal und Stern, den bisweilen merkwürdig agierenden jungen Mann ins Boot zu holen, um endlich eine Spur zum vermissten Paul zu finden?

Worum ging es wirklich?

Der 18-jährige Swen (Samuel Benito) könnte vor neun Jahren das Opfer jenes Täters gewesen sein, der nun wieder zugeschlagen hat. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Der 18-jährige Swen (Samuel Benito) könnte vor neun Jahren das Opfer jenes Täters gewesen sein, der nun wieder zugeschlagen hat. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Das Team Harald Göckeritz (Drehbuch) und Miguel Alexandre (Regie) war schon für den vorletzten Ludwigshafener Fall „Avatar“ verantwortlich, der Anfang Januar 2024 im Ersten Premiere feierte. Bernadette Heerwagen spielte darin eine traurige Programmiererin, und auch damals ging es um Manipulation und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.

Was „Avatar“ und „Der Stelzenmann“ ebenfalls gemein haben: eine gute Plot-Idee, spannende psychologische Thriller-Momente und eine clevere Wendung etwa in der Mitte des Films - als den Zuschauenden plötzlich die Welt des Täters Oliver Kelm (Ulrich Brandhoff) offenbart wird.

Aylin (Meryem Ebru Döndü Öz) und Swen (Samuel Benito) sind verliebt. Doch die Beziehung leidet unter Swens Trauma. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Aylin (Meryem Ebru Döndü Öz) und Swen (Samuel Benito) sind verliebt. Doch die Beziehung leidet unter Swens Trauma. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Ein eher ungewöhnlicher Schachzug in einem deutschen Krimi, dieser Perspektivwechsel. Interessant, aber auch reichlich kühn ist natürlich die Idee von Autor Göckeritz, dass der Täter sein (damals) kindliches Opfer über die Bedrohung mit einer mystischen Monstergestalt - besagter Stelzenmann - zum Schweigen bringt und ein Leben lang ins Trauma schickt.

Wer spielte den 18-jährigen Swen?

Jan Wagner (Reza Brojerdi) bittet darum, dass ihm Ermittlerin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) bezüglich seines entführten Sohnes wenigstens ein kleines bisschen Hoffnung machen kann.  (Bild: SWR / Benoît Linder)

Jan Wagner (Reza Brojerdi) bittet darum, dass ihm Ermittlerin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) bezüglich seines entführten Sohnes wenigstens ein kleines bisschen Hoffnung machen kann. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Damit das psychologische Figurenrätsel Swen funktioniert, bedarf es eines starken Darstellers. Schauspieler Samuel Benito, vor 24 Jahren in Berlin geboren, ist so ein bisschen der deutsche Nachwuchsstar der Stunde. In der sensationellen, aber weitgehend übersehenen Coming-of-Age-Serie „Almost Fly“ (2022, aktuell bei Netflix verfügbar) spielte er einen von drei HipHop-Entdeckern im Deutschland des Jahres 1990.

Und in „Dezember“, einer extrem bewegenden Episode der viel gelobten Anthology-Serie „Zeit Verbrechen“ (RTL+), trägt das Spiel des jungenhaften Schauspielers quasi die gesamte tragische Erzählung. Als traumatisierter Zeuge hält Samuel Benito nun auch den neuen Fall aus Ludwigshafen lange spannend und in der Schwebe. Samuel Benito ist auf jeden Fall ein Name, den man sich merken sollte. Man dürfte noch viel von ihm hören!

Gibt es vergleichbare Entführungen in der Realität?

Wer hat das Kind entführt? Zeuge Oliver Kelm (Ulrich Brandhoff) vermutet, dass zwei Täter im Spiel gewesen sein könnten. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Wer hat das Kind entführt? Zeuge Oliver Kelm (Ulrich Brandhoff) vermutet, dass zwei Täter im Spiel gewesen sein könnten. (Bild: SWR / Benoît Linder)

In Deutschland gelingen etwa 60 Entführungen pro Jahr, 20 scheitern bereits beim Versuch. Statistisch ist das also etwas mehr als eine Entführung pro Woche. Die Aufklärungsquote bei Entführungen in Deutschland liegt bei starken 90 Prozent. Nicht in dieser Statistik enthalten sind jedoch Kindesentführungen mit „internationalem Bezug“.

Es tut sich was im Assistenten-Portfolio: Nico Langenkamp (Johannes Scheidweile) und Mara Hermann (Davina Chanel Fox) bereichern die Ludwigshafener Dienststelle. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Es tut sich was im Assistenten-Portfolio: Nico Langenkamp (Johannes Scheidweile) und Mara Hermann (Davina Chanel Fox) bereichern die Ludwigshafener Dienststelle. (Bild: SWR / Benoît Linder)

Das Bundesamt für Justiz schätzt, dass täglich ein deutsches Kind ins Ausland entführt wird, meist von einem Elternteil. Meistens gelangen Entführungsfälle nicht an die Öffentlichkeit, um Nachahmungstaten zu verhindern. Am häufigsten sind in der Tat Kapitalentführungen, bei denen es den Tätern primär ums Geld geht. Trotzdem ist das statistische Risiko, entführt zu werden, in Deutschland sehr gering.

Am meisten gefährdet ist die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, besonders im Alter von 14 bis 16 Jahren, wenn sie aus wohlhabenden Familien kommen. Einen Fall wie jenen im Film oder die Entführung Natascha Kampuschs, die acht Jahre in Österreich in einem Keller gefangen gehalten wurde, gab es bisher in Deutschland nicht. Eine der längsten Entführungen hierzulande ist jene der Nina von Gallwitz: 1981 wurde die Achtjährige in Köln entführt und 149 Tage lang gefangen gehalten, bevor sie nach Zahlung eines Lösegelds freikam. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.

Ermittelt man in Ludwigshafen nun zu viert?

Eine neue Generation Assistenz-Ermittler scheint das Team von Odenthal und Stern zu bereichern. Die Dialekt sprechenden Alt-Assistenten Frau Keller (Annalena Schmidt) und Kriminaltechniker Peter Becker (Peter Espeloer) mussten in der Folge „Avatar“ (Januar 2024) ihren (Renten-)Hut nehmen.

Im letzten Fall „Dein gutes Recht“ (Oktober 2024) wurden dann zwei junge Kräfte vorgestellt, die um eine Assistentenstelle konkurrieren: die schwarze Pfälzerin Mara Hermann (Davina Chanel Fox) sowie Frisuren-Anachronist Nico Langenkamp (Johannes Scheidweiler). Beide sind in der neuen Folge wieder dabei - und tragen nicht unerheblich zu den Ermittlungen bei. Auch in der nächsten Ludwigshafen-Folge wird man Hermann und Langenkamp wiedersehen - was für eine neue feste Ermittlerkonstellation in Ludwigshafen spricht.

Wie geht es beim Ludwigshafener „Tatort“ weiter?

Im Sommer 2024 entstand unter der Regie von Didi Danquart (Drehbuch: Annette Lober) ein neuer Ludwigshafen-Fall, der den Titel „Tatort: Mike und Nisha“ trägt. Der Plot klingt durchaus interessant: Mittzwanziger Mike stellt seine Freundin Nisha seinen Eltern vor. Das Treffen ist mühsam, wird zunehmend feindselig und eskaliert, als das junge Paar von Hochzeitsplänen berichtet.

Plötzlich stehen Mike (Jeremias Meyer, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) und Nisha (Amina Merai) mit zwei Leichen im Wohnzimmer des elterlichen Eigenheims. Panisch beschließen die beiden, ihre Tat zu vertuschen. Die Ausstrahlung ist für Herbst 2025 vorgesehen. (tsch)